aus dem Magazin Kinder, Familie & Rente

Altenteil, Leibrente, Gnadenpension

Aus der Sperre Sommer 2019

Der heutigen Rentenversicherung gingen etliche historische Formen der Altersversorgung voraus

So ziemlich genau 130 Jahre ist es her, dass Reichskanzler Otto Bismarck 1889 mit dem „Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ erstmals für eine gesetzlich geregelte Altersversorgung für alle Bürger*innen in Deutschland sorgte. Grund genug, einen Blick auf frühere Formen der Altersversorgung auf dem langen Weg zu einer gesetzlichen Krankenversicherung zu werfen.

Jaroslav Spillar, Altenteil, 1904. Quelle: Wikimedia Commons
Jaroslav Spillar, Altenteil, 1904. Quelle: Wikimedia Commons

So zynisch es klingt: Bis ins 19. Jahrhundert hinein mussten sich die meisten Menschen keine großen Gedanken um Ihre Versorgung im Alter machen. Eine für heutige Verhältnisse grauenhaft geringe Lebenserwartung sorgte dafür, dass die Wenigsten jemals die Gelegenheit hatten, einen langen Lebensabend zu genießen.
Für diejenigen, denen es trotzdem gelang, war lange Zeit die Familie die wichtigste Vorsorge im Alter. In den bäuerlichen Gesellschaften des Mittelalters und der frühen Neuzeit war es üblich, dass die ältere Generation irgendwann den Hof an die jüngere abgab und sich aufs wohlverdiente Altenteil zurückzog. Dazugehörige Sitten und Gebräuche unterschieden sich vor allem regional.
In manchen Gebieten wurden die Höfe mehr oder weniger gleichmäßig auf alle oder zumindest mehrere Erben verteilt, wobei diese Erben auch die Versorgung der Eltern unter sich aufteilten. Dies hatte den Nachteil, dass sich Besitz und Wohlstand ebenfalls immer weiter aufteilten, oft bis zu dem Punkt, an dem die eigene Existenzgrundlage nicht mehr gewährleistet war – geschweige denn die Unterstützung älterer Generationen.
In anderen Regionen wiederum war es üblich, den Hof an einen einzelnen Erben, in den meisten Fällen an den ältesten Sohn, weiterzugeben. Dies hatte den Vorteil, dass der Familienbesitz in der Regel als Ganzes erhalten blieb, wodurch auch die Altersversorgung der älteren Generation stärker abgesichert wurde. Ebenfalls ermöglichte dieses Modell die Entstehung von „Traditionshöfen“, welche oft über Generationen im Besitz derselben Familie blieben. Benachteiligte Nachkommen heirateten entweder in andere Höfe ein, oder blieben Teil der Hofgemeinschaft. In Fällen, in denen es keine Erben gab, überschrieben die Landwirte ihren Besitz häufig an ein Kloster, in dem Sie als Gegenleistung im Alter versorgt wurden.

Landbesitz entschied im Mittelalter über die Lebensqualität im Alter

Ein festes Rentenalter gab es noch nicht. In einer untersuchten Region in Österreich reichte die Altersspanne bei der Hofübergabe vom 37. bis zum 81. Lebensjahr, wobei eine Übergabe im Alter zwischen 50 und 65 Jahren die Regel war. Der Ruhestand bedeutete allerdings nicht immer unbedingte Ruhe. Häufig hatten die Ruheständler weiterhin bestimmte Aufgaben im gemeinsamen Haushalt zu erfüllen, manchmal besaßen sie noch einzelnes Vieh oder eine kleine Landparzelle.
Schlechter hatten es in vielen Regionen die Landarbeiter ohne eigenen Grundbesitz. Nur selten konnten diese im Alter permanent an dem Hof bleiben, an dem sie ihr Arbeitsleben verbracht hatten. In der Regel wurden sie in der ganzen Region herumgereicht, bekamen mal auf diesem, mal auf jenem Hof für einige Zeit ihr Gnadenbrot, bevor sie zum nächsten Hof weiterziehen mussten. So waren sie oft als unliebsame „nutzlose Esser“ stigmatisiert und mussten häufig Demütigungen durch ihre jeweiligen Versorger erleiden. Aus dem österreichischen Lammertal ist ein Fall überliefert, in dem ein alter Knecht bei einem geizigen reichen Bauern, der ihn vorübergehend versorgte, schwer krank wurde. Da der Bauer nicht für Behandlung und Beerdigung aufkommen wollte, ließ er den alten Knecht kurzerhand auf eine Schubkarre setzen und auf dem Land des benachbarten Gutes abladen, um die Kosten auf seinen Nachbarn abzuwälzen.
In städtischen Gesellschaften war eine familiäre Altersversorgung eher ungewöhnlich. Handwerker wurden im Alter zumindest in manchen Städten von ihren Zünften unterstützt. So hatten ältere Meister oft das Vorrecht bei der Auswahl von Gesellen, die sie bei der Arbeit entlasten konnten.
Ansonsten musste privat vorgesorgt werden. Oft schlossen Stadtbewohner und Zünfte Leibrentenverträge oder Verträge mit Bürgerspitälern ab. Hierbei zahlten sie während ihres Arbeitslebens in entsprechende Kassen ein, um später im Alter versorgt zu sein. Stadtbewohner, die nicht in Zünften eingebunden waren oder nicht genug verdienten, um privat vorzusorgen, verbrachten ihren Lebensabend oft im Armenhaus, welche in der Regel aus Spenden wohlhabender Bürger*innen und von Zünften finanziert wurden. Aber auch diese Armenhäuser galten als Privileg für jene, die in einer Stadt geboren wurden. Zugezogenen Menschen blieb nach Verlust ihrer Arbeitskraft oft nur die Möglichkeit zu betteln, was wiederum in vielen Fällen dazu führte, dass sie aus der Stadt vertrieben wurden.
Das System der Leibrente entdeckten ab dem 17. und 18. Jahrhunderts auch viele Fürsten für sich. Diese nutzten Leibrentenverträge häufig als temporäre Geldquelle, um Kriege oder Bauprojekte zu finanzieren. Die Geldgeber erhielten dafür im Alter eine Rente. Die Zahlungsmoral vieler barocker Fürsten war bekanntermaßen eher schlecht, dennoch sind dem Autoren dieses Artikels Fälle, in denen ein Landesherr die spätere Auszahlung verweigerte, nicht bekannt.

Staatliche Zuwendungen im Absolutismus

In die Zeit des Barocks fallen auch die Einrichtung erster gesetzlicher Pensionssysteme, zunächst jedoch nur für Beamte und Militärs. Beamtenpensionen fanden zunächst entweder in Form von Emeritierung oder einer „Gnadenpension“ statt. Im ersteren Fall behielt ein Beamter offiziell seine alte Funktion, de facto wurde diese jedoch von einem jüngeren weitergeführt, dessen Bezüge sich beide teilten. Dafür wurde dem jüngeren Beamten die Amtsnachfolge versprochen. Gnadenpensionen wiederum waren Geldzahlungen des Fürsten an seine pensionierten Beamten. Diese Zahlungen waren jedoch keineswegs gesetzlich festgelegt und konnten stark variieren, je nach Lust und Laune des Fürsten beziehungsweise Beliebtheit und wahrgenommenem Verdienst des Beamten.
Ähnlich verhielt es sich bei der Versorgung dienstunfähiger Soldaten: Hierbei ließ man sich zunächst von mehr oder minder bewährten Konzepten wie dem Armenhaus inspirieren und schuf Einrichtungen zur Unterbringung und Ernährung. Die erste ihrer Art in Europa war das „Hôtel des Invalides“, 1674 in Paris gegründet. Im deutschen Sprachraum entstanden 1705 in Preußen und 1728 in Österreich ähnliche Einrichtungen. Diese Invalidenhäuser erwiesen sich jedoch schon bald als zu klein. Als Alternative gewannen daher geringe Zahlungen an ehemalige Soldaten eine immer größere Bedeutung, welche jedoch zunächst eher den Charakter von Almosen hatten.
Zu guter Letzt gab es noch verschiedene Gruppen nichtverbeamteter Arbeiter im Staatsdienst. Bergwerke waren bis ins 19. Jahrhundert hinein in der Regel im Besitz des Landesfürsten. Dass die Bergleute in Notsituationen eine Zuwendung des Fürsten erwarten konnten, hatte eine lange Tradition. Anders als bei Beamten bestand diese jedoch häufig nur aus einzelnen oder zeitlich begrenzten Zahlungen, keine regelmäßigen. Auch kannten diese frühen Formen staatlicher Grundsicherung bereits Sanktionen: So wurde zum Beispiel 1751 im österreichischen Salzkammergut einem alten Salinenarbeiter die Pension entzogen, da er vor dem zuständigen Salzamtmann nicht den Hut gezogen hatte.
Alle diese Zuwendungen hatten jedoch eher den Charakter freiwilliger Almosen von Seiten der Fürsten, als dass sie als unveräußerliches Recht wahrgenommen wurden.

Erste Gesetze

Im Laufe des 18. Jahrhunderts gab es einige Versuche, die Altersversorgung von Staatsbediensteten zu vereinheitlichen und gesetzlich zu verankern. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen wurde 1781 in Österreich von Joseph II. mit der „Pensions-Normale“ das erste zusammenfassende Pensionsgesetz verabschiedet. Beamten stand vom 10. bis zum 25. Dienstjahr eine Pension in Höhe eines Drittels ihres Gehalts zu, die Hälfte zwischen dem 25. und 40. Dienstjahr und zwei Drittel ab dem 40. Dienstjahr. Damit hatte erstmals zumindest die Beamtenschaft einen gesetzlichen Anspruch auf eine genau festgelegte Altersversorgung.
Andere Staaten folgten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nach, so Frankreich 1790, 1803 Bayern, 1809 Baden. In Preußen wurde zwar 1825 eine Pensionsversicherung eingeführt, diese war jedoch bis 1872 nicht gesetzlich gesichert.
Auf Grundlage dieser zunächst für Beamte gedachten Gesetze bahnte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam der Weg zu einer gesetzlichen Rentenversicherung.

Industrialisierung und gesellschaftlicher Wandel

Das 19. Jahrhundert brachte gänzlich neue Formen der Arbeit und des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit sich. Immer mehr Menschen zog es in die Städte, wo sie zum Teil unter unwürdigsten Arbeits- und Lebensbedingungen in den neu entstehenden Fabriken Anstellung fanden. Auf der anderen Seite gab es zahlreiche Innovationen in der Medizin, die dafür sorgten, dass zum Ende des Jahrhunderts ein immer größerer Anteil der Bevölkerung ein höheres Alter erreichte.
Vor der Entstehung einer gesetzlichen Rentenversicherung gab es verschiedene Ansätze zur Altersversorgung der neuen Arbeiterschaft. Nicht zuletzt aufgrund der oft sehr schlechten Arbeitsbedingungen gründeten sich verschiedene Selbsthilfeorganisationen. Viele dieser Organisationen bemühten sich zwar  –  mit wechselndem Erfolg – ihre Mitglieder gegen krankheits- der unfallbedingte Berufsunfähigkeit abzusichern, jedoch ist nur ein Fall bekannt, in denen eine britische Minenarbeiterorganisation 1862 so etwas wie eine funktionierende Altersversorgung organisierte – wenngleich die letztlich ausgezahlte Rente sehr gering war. Versuche in diese Richtung gab es auch auf dem Kontinent einige: Die meisten scheiterten häufig am fehlenden Interesse der Arbeiterschaft selbst. Gerade in der Frühphase der Industrialisierung sorgten die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen dafür, dass trotz der medizinischen Innovationen weiterhin nur die wenigsten Arbeiter*innen das Rentenalter erreichten.
Diverse Arbeitgeber begannen, in ihren Betrieben Firmenpensionen einzuführen. Die hatte meist den Zweck, Angestellte enger an den Betrieb zu binden, die Arbeitsmoral zu erhöhen, und, in manchen Fällen, Wirtschaftsspionage durch unterbezahlte Arbeiter*innen und Angestellte zu unterbinden. Diese Pensionssysteme kamen vor allem in Bergbau- und Eisenbahngesellschaften, Banken und Versicherungen vor.
Solche privaten Initiativen alleine konnten jedoch der Altersarmut ganzer Bevölkerungsschichten nicht entgegenwirken. Gleichzeitig jedoch begannen Arbeiter*innen und Angestellte sich immer stärker zu organisieren und heute als selbstverständlich geltende Rechte einzufordern. Vor diesem Hintergrund sah sich auch ein erzkonservativer Reichskanzler Bismarck dazu gezwungen, gleichzeitig zu seinen repressiven Sozialistengesetzen die weltweit erste gesetzliche Renten- und Krankenversicherung einzuführen. 1883 verabschiedete der Reichstag das Gesetz für eine allgemeine Krankenversicherung, ein Jahr später eines zur Unfallversicherung, während die allgemeine Rentenversicherung schließlich 1889 eingeführt und ab 1891 ausgezahlt wurde.
Dies ist freilich noch nicht das Ende in der Geschichte der Altersversorgung oder der Arbeitnehmerrechte im Allgemeinen. Die letzten 130 Jahre waren voller Kontroversen, Gesetzen, Initiativen und (oft gebrochener) Versprechungen. Vielleicht hilft dieser Artikel jedoch, die Anstrengungen der Arbeiterbewegung auf dem langen Weg zu einer geregelten Altersversorgung wertzuschätzen.