aus dem Magazin

Sanktionen vor Gericht

Jugendliche unter 25 Jahre werden von den Jobcentern besonders hart sanktioniert. Sind deren ALG-II-Kürzungen verfassungswidrig?

Von Robert Martschinke

Sowohl die Bundesagentur für Arbeit als auch das Jobcenter Münster schlüsseln ihre Statistiken über ALG II-Bezieher*innen gern nach Geschlechtern auf, obwohl die Sozialgesetzbücher (SGBs) II und III zwischen Frau, Mann sowie allem dazwischen und darüber hinaus keinerlei rechtliche noch sonst welche Unterschiede kennen oder machen. (Einzige Ausnahme: Schwangerschaft) Alldieweil eine Personengruppe, die allerdings vor dem Gesetz eine massive Ungleichbehandlung erfährt, in keiner Statistik gesondert geführt wird: die der Unter-25-Jährigen (U25).

Die in §31ff. SGB II formulierten Sanktionen gegenüber „widerspenstigen“ ALG II-Bezieher*innen sind ein Basiselement der Hartz IV-Gesetzgebung. Der neoliberale Umbau der Bundesrepublik zum profitabelsten Niedriglohnsektor Europas Anfang des Jahrtausends erforderte und erfordert entsprechende Druckmittel gegenüber Arbeiter*innen, brutal und autoritär genug, dass diese letztlich doch zustimmen, selbst den schlechtesten Job anzunehmen.

§§31ff. demonstrieren in wenigen Zeilen eindrucksvoll, wie tief eine bürgerliche, angeblich zivilisierte „Gesellschaft“ in spätkapitalistischen Zeiten zu sinken bereit ist. Dass im 21. Jahrhundert in einem der reichsten Staaten der Welt Menschen – „Mitbürgern“ und „Mitbürgerinnen“ – von Gesetzes wegen alle materiellen Voraussetzungen fürs nackte Leben, Wohnung, Nahrung, Kleidung entzogen werden, nur weil sich diese weigern, eine bestimmte Arbeit anzunehmen, bezeugt deutlich den wahren, gern verschwiegenen Charakter von Merkels „alternativloser“ Art, menschlich miteinander umzugehen.

Pechschwarze Pädagogik

Das Sanktionsregime der Jobcenter folgt dabei denselben Prinzipien pechschwarzer Pädagogik wie die Staats- und Landesjustiz: Wer – aus welchen Gründen und zu welchem Zweck auch immer – gegen behördliche Vorschriften verstößt, muss leiden. Je höher der Leidensdruck, desto eher ist der oder die Betroffene bereit, sich zu beugen und zu gehorchen. Alleiniges Ziel ist das Brechen des Widerstandes. Zu diesem Zweck wiederum ist dem Herrschaftsapparat namens Bundesrepublik Deutschland praktisch jedes Mittel Recht. Einzig Leib- und Todesstrafe werden nominell nicht verhängt. Müssen sie aber auch gar nicht.

2016 wurden knapp 420.000 Menschen von Jobcentern einmal oder wiederholt sanktioniert. Das sind etwa sieben Prozent der insgesamt sechseinhalb Millionen Hartz-IV-Bezieher*innen in der Bundesrepublik. Wie viele davon junge Menschen unter 25 sind, wird, wie erwähnt, in keiner veröffentlichten Statistik der Behörden erfasst.

Jugendliche werden diskriminiert- mit verheerenden Folgen

ALG II-Empfänger*innen, die jünger als 25 sind und noch bei den Eltern leben, haben enorme Hürden zu überwinden, wenn sie einen eigenen Haushalt gründen wollen. Zudem wird ihnen – so gebietet es §31a (2) SGB II – bereits bei wiederholtem Versäumnis eines Termins beim Jobcenter jegliche Unterstützung verwehrt. Die Folgen von Letzterem waren und sind absehbar: Kein Geld für Essen, kein Geld für Strom, Gas, Wasser, kein Geld für die Miete: Es drohen Mangelernährung, gesundheitliche Schäden, psychische Probleme, Vereinsamung, private Verschuldung bei Bekannten und Freunden, und schließlich Obdachlosigkeit. Letzte Auswege bieten dann nur noch Schwarzarbeit, Prostitution oder – das ist aus der Arbeitslosenberatung hinlänglich bekannt – „Beschaffungskriminalität“ in Form von Diebstahl.

So hat selbst das der Bundesagentur für Arbeit angegliederte Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Anfang des Jahres gefordert, die Sanktionen für U25-Jährige denen für ältere ALG II-Bezieher*innen anzugleichen. Die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat diesem Ansinnen – wie nicht anders zu erwarten – eine klare Absage erteilt.

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet

Bei Redaktionsschluss dieses Artikels steht beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter dem Aktenzeichen 1 BvL 7/16 nach wie vor zur Entscheidung an, ob die Sanktionspraxis gemäß SGB II überhaupt als Ganze nicht verfassungswidrig ist. Beklagt werden Verstöße gegen Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“), Artikel 2 (Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung) sowie Artikel 20 (Gebot der Sozialstaatlichkeit) des Grundgesetzes. Kläger ist das Sozialgericht Gotha. Allerdings hat es das höchste deutsche Gericht offenbar nicht sonderlich eilig mit seinem Urteil. Wie die junge welt Ende Oktober auf Nachfrage erfuhr, sei ein konkreter Verhandlungstermin „noch nicht absehbar“, zitiert die Zeitung den BVerfG-Sprecher Michael Allmendinger.

Sollte das Gericht in Karlsruhe am Ende eine Verfassungswidrigkeit tatsächlich bejahen, ist trotzdem nicht zu erwarten, dass die nächste Bundesregierung die Sanktionspraxis ersatzlos streichen wird. Die CSU hat noch vor Kurzem klargestellt, dass für die Partei, die sich „christlich-sozial“ nennt, weder eine Abmilderung der drakonischen, existenzbedrohlichen Sanktionen für junge Menschen unter 25 noch sonst eine Änderung des Sanktionsregimes zur Diskussion steht. Bündnis 90/Die Grünen haben das Ganze zusammen mit der SPD überhaupt erst verbockt. Und auch von CDU und FDP haben Arbeitslose und Geringverdiener*innen nichts Gutes zu erwarten.

Warten wir‘s also ab. Die Entscheidung des BVerfG dürfte frühestens in diesem Jahr fallen. Bis dahin dürften noch mehrere zehntausend Sanktionen ausgesprochen werden, die bis zum kompletten Entzug jeglicher Lebensgrundlage reichen können.
Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland steigt seit Jahren kontinuierlich, die Halbe-Million-Marke ist längst geknackt. Das soziale Elend floriert. Hartz IV sei Dank.