aus dem Magazin Zum Leben zu wenig

Sanktionen sind teilweise verfassungswidrig

Aus der Sperre Winter 2019

Eine Einschätzung des jüngsten Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV vom 5. November 2019

Zum Inhalt des Urteils
Sanktionen von 30 Prozent sind in der Höhe vertretbar, eine höhere Kürzung ist verfassungswidrig.
Es ist ebenso verfassungswidrig, diese Kürzung ohne Erbarmen vorzuschreiben, ohne zu prüfen, ob die Kürzung eine besondere Härte auslöst, aufgrund derer eine Sanktion unzumutbar wäre.
Es ist weiterhin verfassungswidrig, in jedem Fall auf der dreimonatigen Dauer der Kürzung zu bestehen, selbst wenn der oder die Betroffene nach dem Aussprechen der Sanktion seinen Mitwirkungspflichten nachkommt.

Die Geschichte
Das aktuelle Urteil zu fällen hat das Verfassungsgericht in Karlsruhe lange gescheut. Auch darf man Zweifel anmelden, ob der Vorsitzende Richter nicht befangen war, weil er noch 2018 im Bundestag als Gesetzgeber das Sanktionsrecht bestätigt hat. Vor neun Jahren hatte das Verfassungsgericht in einem anderen Urteil anders entschieden: Existenzminimum sei Existenzminimum, hieß es damals. Dieses sei verfassungsgemäß geschützt, daran gäbe es kein Herumdeuteln.
Im aktuellen Urteil gibt das Gericht dem Gesetzgeber in Sachen Hartz IV jedoch einen Handlungsspielraum. Hartz IV sei eine nachrangige Grundsicherung. Von den Einzelnen dürfe der Staat Mitwirkung einfordern, um die Hilfebedürftigkeit zu beenden. Er dürfe dazu belastende Sanktionen vorsehen, wenn die Betroffenen nicht mitwirkten. Wenn die Sanktionen auf ein Mitwirken gerichtet seien, damit die existenzielle Bedürftigkeit überwunden werde, könnten Kürzungen des Existenzminimums möglich sein, so das Gericht. Diese Mittel müssten jedoch verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und angemessen sein. Ob Sanktionen geeignet sind? Dazu sieht das Gericht keine belastbaren Untersuchungen, es übernimmt aber diese Plausibilitätsüberlegungen und Annahmen. Jedoch verlangt es ein aktives Abwägen mit dem hohen Anspruch der Existenzsicherung. Mehr als 30 Prozent Kürzung gehen in keinem Fall.
Das Hartz-IV-Gesetz macht den Eindruck, die Sanktionen kämen zwangsläufig, ohne das Zutun eines Verwaltungshandelns im Jobcenter. Dabei verhängen schon jetzt viele Jobcenter ihre Sanktionen sehr unterschiedlich. Innerhalb eines Jobcenters wird es ebenso Unterschiede geben. Das Gericht macht dieses Abwägen ausdrücklich zur Aufgabe in jedem Einzelfall. Der Jobcoach muss ab jetzt überprüfen, welche Gesamtwirkung er mit der Sanktion auslöst und ob diese eine besondere Härte für die Betroffene darstellt.
Auch muss eine Korrektur der Sanktion möglich sein. Wenn ein Arbeitsloser demnächst sagt, ich mache künftig mit, dann ist das Handlungsziel des Jobcenters erreicht, und das Jobcenter muss die Kürzung beenden.

Was nach dem Urteil vom 5. November zu tun ist
Wer jetzt noch eine mehr als 30-prozentige Kürzung bekommt oder in einer laufenden Kürzung ist, sollte sofort dagegen vorgehen. Wem auch 30 Prozent Kürzung sehr weh tun, kann das als besondere Härte angeben.
Und wer sagt: „Ich mache ab jetzt mit“, kann den sofortigen Stopp der Kürzung einfordern.
Wer schon vor dem 5. November 2019 einen Widerspruch gegen eine ältere Kürzung eingelegt hatte, kann sich auf diese neuen Maßstäbe berufen.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 05. 11.2019 – Az. 1 BvL 7/16

Anmerkung: Klage und Urteil gelten zunächst nur für über 25-Jährige Hartz-IV-Bezieher*innen. Aber auch Jüngere können gegen ihre Sanktionen vorgehen. Mal sehen, wie Bundesregierung, Bundesagentur, Jobcenter und Gerichte mit der ungleichen Rechtslage umgehen.

Anmerkung der Redaktion:
Nach Redaktionsschluss hat die Bundesagentur für Arbeit auf das Urteil aus Karlsruhe reagiert. Laut Berichten in verschiedenen Medien sei den Jobcentern mitgeteilt worden, keine Sanktionsbescheide mehr zu verschicken. Die vom höchsten Gericht angemahnte Änderung der Sanktionspraxis gelte nun auch für junge Arbeitslose unter 25 Jahre. Aktuell gültige Sanktionen von 60 oder gar 100 Prozent für Arbeitslose würden dem Urteil gemäß auf 30 Prozent gesenkt. Agenturchef Detlef Scheele hat für Ende November eine rechtlich verbindliche Übergangslösung angekündigt. In 2020 solle eine gesetzliche Neuregelung der Sanktionspraxis folgen. tk

Arnold Voskamp
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