Gestern und heute: Obdachlosigkeit als juristischer Straftatbestand
Von 1871 bis 1974, von der Reichsgründung bis Willy Brandt, wurden Obdachlose in Deutschland durchgängig kriminalisiert. „Mit Haft wird bestraft, wer als Landstreicher umherzieht“, bestimmt Paragraph 361 Absatz 3 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich, der von den Rechtsnachfolgern Weimarer Republik, Drittes Reich und Bundesrepublik unverändert in ihr jeweiliges „Recht“ übernommen wurde. Erst 1974 wurde der Paragraph, der unter anderem auch Trunkenheit in der Öffentlichkeit unter Strafe stellte, ersatzlos gestrichen. Pünktlich zur Fußball-WM.
Von Robert Martschinke
Angst war die vordergründige Grundlage des Gesetzes, das wörtlich aus dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 übernommen worden war. Angst vor Diebstahl, „Unzucht“ und Schlimmerem, vor Straftaten also, die zu begehen „Zigeunern“, „Heimatlosen“, „Nicht-Sesshaften“ kategorisch unterstellt wurde. Hintergründig diente es der Stigmatisierung, Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen, die nicht ins gesellschaftlich akzeptierte Raster passten, aus welchen Gründen auch immer.
Städte und Kommunen kriminalisieren munter weiter
Dabei wäre § 361 Abs. 3 nach wie vor höchst kompatibel mit dem Grundprinzip unseres „Rechtsstaats“, der in erster Linie Menschen kriminalisiert und sanktioniert, die nicht ursächlich durch eigenes Verschulden in ihre Lage und zu ihrem Handeln gezwungen wurden; denen die Mittel fehlen, sich gegen Polizei- und Justizterror zur Wehr zu setzen. Denn niemand wird ernsthaft behaupten, dass die große Mehrheit der Wohnungslosen, der „Stadt- und Landstreicher*innen“ freiwillig und auf eigenen Wunsch ohne Obdach ist.
Sei´s drum. SPD und FDP sei Dank, die Anfang der 1970er-Jahre in einer sozialliberalen Koalition in Bonn regierten, ist es heute also legal, auf der Straße leben zu müssen. Damit waren und sind jedoch längst nicht alle einverstanden. Der SPIEGEL berichtet in seiner Ausgabe vom 22. Juli 1974, wie die Stadtverwaltungen von Köln, Düsseldorf und anderen Großstädten bereits unmittelbar nach Abschaffung von § 361 mittels kommunaler Vorschriften und Verbote gegen „Penn-Brüder“ (SPIEGEL) vorzugehen versuchten. Und auch das Münsteraner Rathaus, ob nun christ- oder sozialdemokratisch geführt, unternimmt immer wieder mal Versuche, Wohnungslose und Menschen, die zum Betteln gezwungen sind, von der Konsummeile Prinzipalmarkt oder anderen Vorzeige-Locations auf juristischem Weg zu verbannen. Dem widerspricht indes Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“
Festgebacken in den Köpfen
Ihre subtile Wirkung hat die Jahrhunderte dauernde Kriminalisierung des „Fahrenden Volkes“ nicht verfehlt. In reaktionären Köpfen steckt auch heute noch das diskriminierende Bild vom „Gammler“ (seltener: der „Gammlerin“), der aufgrund von Faulheit (früher: „Arbeitsscheu“), „Trunksucht“ oder anderer charakterlicher Verfehlungen selbst Schuld trägt für seine (oder ihre) Situation. Bürgertum wie Arbeiter*innen und Prekariat, die dessen Vorurteile übernommen haben, blicken nach wie vor hinab auf jene, die den herrschenden Verhältnissen nicht gewachsen sind oder sie rundweg ablehnen. Dabei spielt bei Letzteren sicher nicht unwesentlich die Einsicht mit hinein, selbst vielleicht nur einen Schritt von der Obdachlosigkeit entfernt zu sein. Hass und Angst gehen Hand in Hand.
Zahl der Obdachlosen auf Rekordniveau
Im selben Paragraphen 361 von 1871 wird unter Absatz 7 außerdem jedem Haft angedroht, der, „wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten.“ Kurz: Knast für Arbeitslose. Die landen dank Hartz IV heute – massenhaft ist nicht übertrieben – in der Obdachlosigkeit. 1974, als der Straftatbestand „Landstreicherei“ abgeschafft wurde, gab es in der BRD rund 150.000 Menschen ohne Dach über dem Kopf. 2018 wird die Zahl der Wohnungslosen, der Stadt- und Landstreicher*innen in Deutschland erstmals seit 1945 die Eine-Million-Marke deutlich überschreiten. Schon gut, dass § 361 gestrichen wurde. So viele Haftanstalten könnten Bund und Länder gar nicht bauen, wo sie schon beim konventionellen Wohnraum gnadenlos gescheitert sind. Wenn die politisch Verantwortlichen nur einen Funken Charakter hätten, müssten sie sich in Grund und Boden schämen.
Menschen ohne Obdach gehören zu den am krassesten benachteiligten, schwächsten, leidgeprüftesten und gleichzeitig am meisten missachteten Mitgliedern der Gesellschaft. Sie haben unser Aller uneingeschränkte Solidarität verdient. Gläubigen Menschen gebietet das bereits ihre Religion. Allen anderen gebietet es schlicht die Menschlichkeit.
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Arbeitslager für „Asoziale“ in der DDR
Belastbare Zahlen zur Obdachlosigkeit in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) liegen nicht vor. Naheliegend ist eine Tendenz gegen Null. Das öffentliche Kontroll- und Überwachungsnetz war dicht genug gewebt, dass niemand hindurchschlüpfte. Obdachlose wären umgehend von der Volkspolizei aufgegriffen worden. Der Paragraph 249 des DDR-Strafgesetzbuchs sanktionierte unsozialistische „Arbeitsscheu“ in letzter Konsequenz mit der Unterbringung in einem der berüchtigten Arbeits- bzw. Erziehungslager. In der DDR war jedoch auch kein Mensch gezwungen, auf der Straße zu leben, da ein permanenter Überschuss an freiem, gleichzeitig extrem preiswertem Wohnraum bestand. Paradiesische Zustände waren es nicht immer, aber aus heutiger Sicht nicht immer schlechter als in der Bundesrepublik. Der besagte Paragraph wurde mehrfach abgemildert und bei dem Beitritt/Anschluss der DDR zur/an die BRD im Sommer 1990 ersatzlos gestrichen.
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