Zum Leben zu wenig

Dramatischer Anstieg der Tafel-Nutzer*innen: Besonders Rentner*innen betroffen

Innerhalb eines Jahres ist die Anzahl der Menschen, die die Angebote der Tafeln nutzen, um zehn Prozent gestiegen. Aktuell kommen 1,65 Millionen Menschen regelmäßig zu den Tafeln. Besonders bei Senioren, die Rente oder Grundsicherung im Alter beziehen, ist der Anstieg mit 20 Prozent dramatisch. „Niedrige Renten sind damit nach Langzeitarbeitslosigkeit der zweithäufigste Grund eine Tafel aufzusuchen“, warnt der Bundesverband der Tafeln, Tafel Deutschland.

Ausladen der Lebensmittelspenden bei der HH-Bergedorfer Tafel. Foto: Tafel Deutschland/Dagmar Schwelle

„Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit großer Wucht überrollen“

„Diese Entwicklung ist alarmierend – und sie ist erst der Anfang. Altersarmut wird uns in den kommenden Jahren mit großer Wucht überrollen“, warnt der Vorsitzende von Tafel Deutschland, Jochen Brühl. „Die Politik darf nicht länger abwarten, sie muss jetzt handeln. Es braucht tiefgreifende Reformen und verbindliche, ressortübergreifende Ziele zur Bekämpfung von Armut in Deutschland. Die Zeit der kleinen Schritte ist vorbei.“

„Hier wachsen wegen struktureller Nachteile die Altersarmen von Übermorgen heran“

Völlig inakzeptabel sei auch der Anstieg der Besuche von Kindern und Jugendlichen bei den Tafeln – fast 50.000 mehr junge Menschen sind auf die Unterstützung mit Lebensmitteln angewiesen. Insgesamt liegt ihr Anteil bei 30 Prozent der Tafel-Nutzer*innen. „Wir leisten es uns in Deutschland, Kinder systematisch zu vernachlässigen. Wir haben eines der undurchlässigsten Bildungssysteme der OECD-Staaten. Wer als Kind arm ist, hat kaum Chancen, sich aus dem Armutskreislauf zu befreien. Hier wachsen wegen struktureller Nachteile die Altersarmen von Übermorgen heran“, so der Vorsitzende Jochen Brühl weiter.

Es fehlt „an Geld für mehr Kühlfahrzeuge und Lagerkapazitäten“

Obwohl immer mehr Menschen die Unterstützung der Tafeln suchen, kann die Organisation im Vergleich zum Vorjahr nur unwesentlich mehr Lebensmittel retten: gut 265.000 Tonnen sind es im Jahr – das sind 500 kg in jeder Minute. Doch es könnte noch mehr sein, denn vernichtet werden in Deutschland bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr. Den Tafeln fehlt es an Geld für mehr Kühlfahrzeuge und Lagerkapazitäten – und vor allem brauchen sie mehr Helfer*innen.

Die Tafeln fordern finanzielle Unterstützung des Staates bei der Rettung und Verteilung von Lebensmitteln

Weltweit wird jedes dritte produzierte Lebensmittel weggeworfen. Laut FAO werden dadurch unnötigerweise 1,3 Milliarden Tonnen CO2 produziert. Im Rahmen der UN-Nachhaltigkeitsziele hat sich auch Deutschland verpflichtet, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren. „Aus Sicht der Tafeln sind wir deshalb an einem Wendepunkt angelangt. Die Tafeln fordern finanzielle Unterstützung des Staates bei der Rettung und Verteilung von Lebensmitteln. Das Ehrenamt kommt hier an seine Grenzen“, so Jochen Brühl. In fast allen europäischen Ländern werden Tafeln und Lebensmittelbanken längst von der Öffentlichen Hand mitfinanziert. Eine Verantwortung sehen die Tafeln auch bei den Verbraucher*innen: „Jede und jeder kann in seinem eigenen Kühlschrank zum Lebensmittelretter*in und Klimaschützer*in werden“, so Jochen Brühl.

Die Tafeln vereinen mit ihrem einzigartigen Engagement soziale und ökologische Aspekte – und fordern diese Sichtweise auch von der Politik. „Wir müssen den sinnlosen, unmoralischen Kreislauf der Verschwendung und Vernichtung stoppen – und zwar aus sozialen und ökologischen Gründen. So lange wir in Deutschland jährlich bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel wegschmeißen und auf der anderen Seite Menschen am Ende des Monats genau diese Lebensmittel nicht mehr bezahlen können, ist unser Engagement bitter nötig“, sagt Jochen Brühl.

In Zahlen:

  • Zehn Prozent mehr Menschen nutzen die Tafeln, besonders dramatisch ist der Anstieg bei Senioren (20 Prozent mehr als 2018)
  • 947 Tafeln unterstützen aktuell insgesamt 1,65 Millionen bedürftige Menschen
  • Gerettete Lebensmittel kaum gestiegen, Rückgang des ehrenamtlichen Engagements
  • Tafeln fordern deshalb finanzielle Unterstützung des Staates nach europäischem Vorbild

Siehe auch:

Die Zahl der Tafel-Nutzer*innen hat sich seit 2007 verdoppelt

(jgn)