Das Wohnkonzept „Housing First“ bringt Bewohner*innen mehr Ruhe, Normalität und Lebensqualität
Ein Gastbeitrag von Susanne Theyssen
Eine Wohnung. Eine Wohnung mit eigenem Mietvertrag. Die Möglichkeit haben, die Tür hinter sich zuzuziehen, Ruhe zu haben und die Welt draußen zu lassen. Das Normalste von der Welt, oder?
Normalität ist dies leider für viele Menschen in Münster nicht. Die Zahl der Wohnungslosen in der Stadt wächst stetig. Horrende Mietpreise, hohe Abschlagssummen für Inventar und fehlender Wohnraum beherrschen derzeit den Wohnungsmarkt. Viele Menschen haben immer weniger Zugang zum normalen Wohnungsmarkt, um eine eigene Bleibe zu finden. Mehrere hundert Wohnungen fallen jährlich aus der Sozialbindung der Stadt Münster; Wohnraum, der für viele Menschen noch bezahlbar wäre.
Die Alternative ist oft verdeckte Wohnungslosigkeit: „Couch-Hopping“, Unterschlupf suchen bei Freunden oder Bekannten. Oder es bleibt schlussendlich die Obdachlosigkeit – wohnen auf der Straße.
Wer „Glück“ hat, bekommt einen Platz in einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe in Münster, kann dort übernachten oder wird länger betreut. Voraussetzung ist die Abstinenz von Alkohol oder anderen Drogen und die Annahme von betreuender Hilfe. Dieses System zielt darauf ab, die Menschen nach womöglich jahrelanger Obdachlosigkeit über mehrere Stufen „wohnfähig“ zu machen. Sie müssen an Hilfeplänen mitwirken, Auflagen der Ämter erfüllen und Therapiebereitschaft zeigen. Doch was als Lehrzeit für Obdachlose gedacht ist, entpuppt sich oft als das genaue Gegenteil: Viele Menschen scheitern auf diesem Weg und müssen wieder zurück auf „Los“.
Was nutzt ein solches Stufenmodell bzw. „Trainingswohnen“, wenn am Ende der Markt keinen Wohnraum für Bedürftige zur Verfügung stellt und die Menschen in den Einrichtungen verharren müssen? Und: Ist das Recht auf Wohnen nicht ein Grundrecht des Menschen? Ist nicht jeder Mensch per se „wohnfähig“?
Was also tun? Eigentlich ist es ganz logisch: Wer wohnungslos ist, soll sofort und ohne Umwege über Notunterkünfte wieder in eine eigene Wohnung mit eigenem Mietvertrag ziehen. Dort soll er oder sie von einem Team bei Bedarf und Wunsch (ist keine Voraussetzung!) individuell betreut werden, das ihn ganz konkret einzelfallbezogen unterstützt bei Themen wie Arbeitslosigkeit, Sucht, Schulden etc.
Housing First (HF) nennt sich dieser Ansatz, man könnte das übersetzen mit: Erst eine Wohnung und dann… Anfang der 1990er-Jahre kam die Idee dazu in New York auf, inzwischen gibt es überall ähnliche Projekte, auch in Deutschland. Dort, wo HF praktiziert wird, ist der Erfolg groß: Nach fünf Jahren leben noch über 90 Prozent der Vermittelten in den Wohnungen. HF bringt den Menschen mehr Ruhe, mehr Normalität und eine höhere Lebensqualität.
Der Paritätische Landesverband NRW e.V. macht sich auf den Weg. Er hat ein Rahmenkonzept entwickelt, was vorsieht, im Verlauf von drei Jahren organisierte Träger durch eine Spende in die Lage zu versetzen, den Erwerb von Wohnungen zu finanzieren. Diese sollen laut Housing-First-Konzept an wohnungslose Menschen mit komplexen Problemlagen zur Verfügung gestellt werden. Ermöglicht wird das Projekt durch eine großzügige Spende von Kunstwerken des Malers Gerhard Richter.
Auch Münster beteiligt sich. Mithilfe des Housing First Fonds wollen freie Träger wie zum Beispiel Dach überm Kopf e.V., Wohnraum kaufen, um ihn wohnungslosen Menschen zur Verfügung zu stellen, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Chance haben. In der Wohnung sollen sie erstmal ankommen, durchatmen – um dann in Ruhe und auf Wunsch mit Unterstützung alles Weitere anzugehen.
Denn Wohnen sollte nicht bloß ein Grundrecht auf dem Papier sein.
Susanne Theyssen ist Diplom-Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin des münsterschen Vereins Dach überm Kopf.
- Keiner will mehr arbeiten - 31.10.2024
- Steuerliche Absetzung von Beiträgen zur privaten Altersversorgung - 28.10.2024
- Demokratisierer im Kunstzirkus - 24.10.2024