Arbeit und Soziales

Ein Stück mehr Gerechtigkeit erstreiken

Worum es bei den aktuellen Tarifauseinandersetzungen geht

Ein Gastbeitrag von Carsten Peters*

Am 27. März war es soweit: Die Gewerkschaften EVG und ver.di streikten am selben Tag. Das Ergebnis: Der Bus- und Bahnverkehr fand bundesweit nicht statt. Lediglich wenige privat betriebene Buslinien fuhren noch. Mit den Streiks in der aktuellen Tarifrunde im öffentlichen Dienst geht es nicht nur um mehr Geld und den erforderlichen Inflationsausgleich. Es geht auch um den Erhalt und die Sicherung attraktiver Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst im Wettbewerb mit der Privatwirtschaft.

Im Verkehrsbereich geht es zudem um die Umsetzung der Verkehrswende: Auch dafür ist mehr Geld erforderlich, um den Umstieg vom Pkw-Verkehr auf den ÖPNV zu unterstützen. Schon heute ist die Finanzierung des Nahverkehrs trotz erhöhter Regionalisierungsmittel, die vom Bund an die Länder gezahlt werden, knapp auf Kante genäht. In vielen Kommunen fehlt es zudem an Busfahrer*innen, auch bei den Stadtwerken in Münster.

Der Schlichterspruch liegt auf dem Tisch

Das sind die Forderungen in der aktuellen Tarifauseinandersetzung: 10,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt, mindestens jedoch 500 Euro mehr. Beteiligt sind für den Bereich des Tarifvertrags öffentlicher Dienst (TVöD) auf Gewerkschaftstsseite verdi, die GEW, die GdP und die IG BAU.
Großer Wert wird dabei auf echte Gehaltssteigerungen bei den Tabellenentgelten gelegt, damit die Gehaltssteigerungen nachhaltig wie rentenwirksam sind und insbesondere den unteren und mittleren Einkommensgruppen zugutekommen. Einmalzahlungen, wie von den Arbeitgebern favorisiert, können dafür keine nachhaltige Wirkung entfalten.
Gegen Redaktionsschluss lag die folgende Schlichtungsempfehlung auf dem Tisch: Prozentuale Steigerungen erst ab 2024 und nicht rückwirkend ab dem 1. Januar 2023, vorwiegend Einmalzahlungen für dieses Jahr. Beschäftigte, die unter den Geltungsbereich des TVöD, TV-V, TV-N (angekoppelte Bundesländer) und TV-Wald- Bund fallen, sollen im Jahr 2023 ein Inflationsausgleichsgeld in Höhe von insgesamt 3000,- Euro erhalten. Die steuer- und abgabenfreie Zahlung soll in mehreren Schritten erfolgen:

• Einmalig 1240,- Euro im Juni 2023

• Ab Juli 2023 bis Februar 2024 eine monatliche Zahlung in Höhe von 220,- Euro

• Auszubildende sollen jeweils die Hälfte davon erhalten.

Nach Einschätzung der Schlichter waren die Arbeitgeber nicht bereit, einen ausreichend hohen Mindestbetrag zu vereinbaren. Die Aufgabe der Schlichter bestand daher im Ausloten von anderen Möglichkeiten. Das mündete in den Vorschlag eines Sockelbetrags mit gleichzeitiger linearer Erhöhung. Ab dem 1. März 2024 sollen die monatlichen Tabellenentgelte um 200,- Euro plus 5,5 Prozent steigen. Soweit dabei keine Erhöhung von 340,- Euro erreicht wird, wird der betreffende Erhöhungsbetrag auf 340 Euro gesetzt. Für Auszubildende ist laut ver.di eine Erhöhung zum gleichen Zeitpunkt von 150 Euro vorgesehen.

Sockelbetrag als Kompromiss

Was heißt das, ein Sockelbetrag von 200 Euro plus 5,5 Prozent mehr Geld? Dies würde beispielsweise bei einer/m Müllwerker*in in der EG 3, Stufe 3 ein monatliches Plus von 357,34 Euro (13,43 Prozent) bedeuten. Bei einer/m Fahrer*in (NRW/NS) in der EG 5, Stufe 4 monatlich 378,88 Euro mehr (12,41 Prozent). Bei einem/r Verwaltungsangestellten in der EG 6, Stufe 5 monatlich 398,79 Euro mehr (11,99 Prozent). Bei einer/m Erzieher*in in der S8a, Stufe 6 monatlich 429,87 Euro mehr (10,80 Prozent). Bei einer Pflegefachkraft in der P8, Stufe 4 monatlich 40 0,66 Euro mehr (11,62 Prozent) – so die Berechnungen von ver.di. Zunächst gehen die Verhandlungen weiter, dann wird die Debatte um die Schlichtungsempfehlung in den Betrieben geführt, bevor es zur Abstimmung über das Schlichtungsangebot kommt.
Die aktuellen Tarifauseinandersetzungen und Warnstreiks haben auch Teile der Politik auf den Plan gerufen. Aus der CDU/CSU kamen Forderungen nach Einschränkungen des Streikrechtes. Diese können nach Lage der Dinge nur auf fehlende Sachkenntnis zurückgeführt werden.

Streik als Grundrecht

Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) „wären Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik im Allgemeinen nicht mehr als kollektives Betteln“ (BAG vom 10. Juni 1980 – 1 AZR 822/79) und „Ein fairer und angemessener Ausgleich widerstreitender Arbeitsvertragsinteressen im Wege kollektiver Verhandlungen verlangt aber nach annähernd gleicher Verhandlungsstärke und Durchsetzungskraft (…). Diese lassen sich weder formal und situationsungebunden feststellen noch normativ anordnen (…). Im System der Tarifautonomie werden sie durch die Androhung oder den Einsatz von Kampfmaßnahmen gesichert.“ (BAG vom 20. November 2012 – 1 AZR 611/11).
Es ist und bleibt dringend erforderlich, dass die Gewerkschaften auch durch Streiks dafür sorgen, dass ordentliche Gehälter gezahlt und die Beschäftigten vor den Auswirkungen der Inflation geschützt werden.

Diskussion um höheren Mindestlohn

Wie hoch steigt der Mindestlohn? Rund 6,64 Millionen Beschäftigte in Deutschland profitieren seit dem 1. Oktober 2022 von der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro brutto pro Stunde. Laut einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung hat sich die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns direkt auf diese über sechs Millionen Beschäftigte ausgewirkt. Ihnen hat der höhere Mindestlohn ein Plus von durchschnittlich über 100 Euro pro Monat beschert.
Im Detail kam Folgendes heraus: Bei 19 Prozent der für die Studie Befragten waren es mehr als 200 Euro, bei 21 Prozent zwischen 100 und 200 Euro, bei 38 Prozent zwischen 50 und 100 Euro und bei 22 Prozent weniger als 50 Euro. Nach Beschäftigungsstatus sortiert verdienten Vollzeitbeschäftigte im Schnitt monatlich 155 Euro mehr, Teilzeitbeschäftigte 104 Euro und geringfügig Beschäftigte immerhin noch 59 Euro mehr.
Mit der Ankündigung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, er rechne mit einer ordentlichen Anhebung des Mindestlohns zum 1. Januar 2024 aufgrund der gestiegenen Löhne und Gehälter, meldeten sich zugleich erneut Bedenkenträger aus der Wirtschaft zu Wort, denen eine Anhebung nicht genehm ist.
Festzuhalten ist, dass ein existenzsichernder Mindestlohn insbesondere im Hinblick auf die Verhinderung von Altersarmut weiter steigen muss: Um auf 50 Prozent des durchschnittlichen oder 60 Prozent des mittleren Lohns, des sogenannten Medianlohns, zu kommen, müsste die deutsche Lohnuntergrenze bei mindestens 13,16 Euro beziehungsweise 13,53 Euro liegen. Der VdK kämpft angesichts einer Inflation von 7,4 Prozent im März 2023 für einen Mindestlohn in Höhe von 14 Euro. Die Anhebung des Mindestlohns hat zwar vielen ein kräftiges Lohnplus gebracht, aber er muss zügig weiter steigen. Die Gewerkschaften setzen sich dafür ein.

*Gastautor Carsten Peters ist Vorsitzender der GEW Münster und stellvertretender Vorsitzender des DGB-Stadtverbandes Münster