Eine Buchbesprechung zu Sirkka Jendis‘ „Armut hat System“.
Von Jan Rinke
Als Geschäftsführerin des Vereins Tafel Deutschland e.V., die als Dachorganisation das längst überforderte System der Lebensmittelspenden für Bedürftige organisiert, kennt Sirkka Jendis Armut aus nächster Nähe. Mit ihrem Buch, das durch einen klar strukturierten, lebendigen Stil und eine präzise, empirisch fundierte Methodik besticht, zeigt sie, dass es sich nicht um bedauerliche Einzelschicksale handelt, sondern um ein strukturelles Problem mit weitreichenden Folgen für die gesamte Gesellschaft.
„Armut hat System“ macht deutlich, dass soziale Ausgrenzung, mangelnde Bildungschancen und fehlende gesellschaftliche Teilhabe nicht nur die Betroffenen selbst treffen, sondern das Potenzial unzähliger Menschen ungenutzt lassen – ein Befund, der durch Jendis’ gut lesbare und analytisch gewählte Sprache zusätzlich an Klarheit gewinnt. In einem der reichsten Länder der Welt wird Armut somit zur Hypothek für die Zukunft aller. Ein fortschreitendes Problem, bei dem ein in Armut aufgewachsener Mensch schlechtere Chancen auf Bildung und soziale Teilhabe hat und oft als Erwachsener in prekären Verhältnissen verharrt. So entsteht ein Kreislauf, der nicht nur individuelle Lebenswege belastet, sondern die gesamte Gesellschaft langfristig schwächt.
Jendis zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der der soziale Zusammenhalt erodiert, wenn die Politik der Armut nicht entschieden entgegentritt – und dies gelingt ihr durch einen flüssigen, präzisen Stil, der komplexe Daten und Zusammenhänge in zugängliche Worte fasst. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf der systematischen Kritik eines als unverbesserlich erscheinenden Systems, sondern ebenso auf der Betonung der individuellen und kollektiven Selbstwirksamkeit, die den Leserinnen und Lesern Mut macht, selbst aktiv zur Veränderung beizutragen.
Diese Entwicklung stellt auch die freiheitlich-demokratische Grundordnung vor eine Zerreißprobe: Wer sich ausgegrenzt fühlt, wendet sich leichter von demokratischen Institutionen ab. Dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen politische Rückschläge und wirtschaftliche Krisen den gesellschaftlichen Druck erhöhen. Auch die Migrationspolitik wird in diesen Kontext eingebunden: Denn ohne wirksame Maßnahmen gegen Armut und soziale Spaltung wird Integration erschwert und Konflikte werden vertieft.
„Wohlstand für alle“ bleibt eine Wunschvorstellung
Ludwig Erhards Vision von „Wohlstand für alle“ war einst das Versprechen einer sozialen Marktwirtschaft, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Heute steht dem jedoch eine Realität gegenüber, in der systematisch ein Teil der Gesellschaft in Armut gehalten wird – mit negativen Folgen für alle. Eine Gesellschaft, die zulässt, dass ein signifikanter Teil ihrer Mitglieder dauerhaft ausgegrenzt bleibt, ist letztlich ärmer, als sie sein könnte – wirtschaftlich, kulturell und sozial. Neoliberale Konzepte, die auf Wachstum ohne soziale Sicherung setzen, verkennen, dass ohne Beseitigung struktureller Armut keine nachhaltige Stabilität erreicht werden kann.
Problembeschreibung, Analytische Stärke, lesbarer Stil
Jendis bleibt nicht bei der Problembeschreibung stehen, sondern entwickelt mit analytischer Strenge und empathischem, gut lesbarem Stil konkrete Lösungsansätze, die auf Selbstwirksamkeit und gesellschaftliche Teilhabe setzen. Sie betont die Bedeutung von Bildungsförderung, um jungen Menschen den Ausstieg aus dem Armutskreislauf zu ermöglichen, und plädiert für eine stärkere Unterstützung lokaler Initiativen, die Betroffenen helfen, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Sozialunternehmen, kooperative Wohnprojekte und gemeinwohlorientierte Wirtschaftsformen sind weitere Strategien, die sie als Wege aus der strukturellen Armut aufzeigt – stets untermauert von einer Methodik, die Fakten und Erfahrungswerte gekonnt verbindet.
Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation und der Herausforderung einer neuen Regierungsbildung liefert „Armut hat System“ eine notwendige Analyse und drängende Handlungsempfehlungen. Es macht deutlich, dass eine Politik, die Armut ignoriert, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie selbst gefährdet. Ein Buch, das als Pflichtlektüre zur Bewertung der kommenden Sozialpolitik dienen sollte.
Sirkka Jendis: Armut hat System – Warum Deutschland Armut zulässt und was wir dagegen tun können; Droemer Verlag; München 2024; 250 Seiten; 21 Euro; ISBN 978-3-4264-4696-6; in der Hauptstelle der Stadtbücherei Münster (Sozialwissenschaften, GCM JEN/ im Blickpunkt / Eingangshalle) ausleihbar.