Bundesregierung quält sich zur Kindergrundsicherung
von Werner Szybalski
Die Bundesregierung stritt mal wieder. Ende August fand im Kanzleramt ein „Schlichtungsgespräch“ statt, bei dem sich Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf eine gemeinsame Linie in dem für Kinder und Jugendliche wichtigsten Reformprojekt der Ampelregierung einigen sollten – der Kindergrundsicherung.
„Der Kinderschutzbund und die Wohlfahrtsverbände sprechen von rund 20 Milliarden Euro“, erklärte Torben Oberhellmann vom Kinderschutzbund Münster am 26. August im Interview mit den Westfälischen Nachrichten zum Finanzbedarf für die Kindergrundsicherung in Deutschland. Die Familienministerin hatte zuvor den Finanzbedarf auf rund zwölf Milliarden Euro beziffert und der Finanzminister wollte zwei Milliarden zur Verfügung stellen. Nach Vorgespräch im Kanzleramt und der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg steht nun fest: Im Bundestagswahljahr 2025 sollen ab Januar 2,4 Milliarden Euro zusätzlich für die Kindergrundsicherung im Bundeshaushalt zur Verfügung stehen.
Die Kindergrundsicherung soll vor steigender Kinderarmut schützen oder diese im Idealfall sogar beseitigen. Aber unabhängig von der Frage, was mit den in Aussicht gestellten Geldern, die bei Bedarf bis auf sechs Milliarden aufgestockt werden könnten, tatsächlich erreicht werden kann: Der Bund zieht sich demnächst mehr Verantwortung für die Bekämpfung von Armut bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ab 2025 an. Denn die Auszahlung für alle Leistungen soll durch eine amtliche Stelle in der Mitverantwortung des Bundes erfolgen. In Münster, so die Antwort der Stadt, werde die Kindergrundsicherung beim vom Bund gemeinsam mit der Stadt betriebenen Jobcenter angesiedelt.
Derzeit sind in Münster noch fünf öffentliche Einrichtungen mit Leistungen für Kinder und Jugendliche betraut. An vorderster Stelle das Jobcenter, das zum Beispiel das Bürgergeld (ehemals Hartz IV) gemäß Sozialgesetzbuch (SGB) II auszahlt, das Sozialamt (Leistungen nach SGB XII und dem Asylbewerberleistungsgesetz), das Amt für Wohnungswesen und Quartiersentwicklung (Wohngeld), das Jugendamt (Leistungen nach dem SGB VIII) und die Agentur für Arbeit bzw. Familienkasse Rheine (Kindergeld und Kinderzuschlag).
Diese Leistungen sollen ab 2025 alle vom Jobcenter gezahlt werden. Dabei ist mit einer Steigerung der Zahlungen zu rechnen. Auch deshalb, da zukünftig die Kindergrundsicherung inklusive aller Leistungen von der Holschuld der bedürftigen Familien (sie müssen selbst aktiv werden) zu einer Bringschuld des Staates werden soll. Bund und Kommune müssen sich ab 2025 also darum kümmern, dass alle, die ein Anrecht auf die Leistungen für Kinder und Jugendliche haben, diese auch tatsächlich bekommen.
2021 – heute sind die Zahlen unter anderem durch Flüchtlinge aus der Ukraine deutlich höher – lebten in Münster 27.310 Kinder im Alter von null bis neun Jahren und 27.235 junge Menschen im Alter von zehn bis 19 Jahren. Ende vergangenen Jahres bezogen vom Jobcenter der Stadt Münster 3629 Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren Leistungen nach dem SGB II. Davon waren rund 55 Prozent Ein-Eltern-Familien. Insgesamt waren, so die Stadt Münster, 7063 Kinder unter 18 Jahren (8693 Kinder und Jugendliche unter 25 Jahren) in Bedarfsgemeinschaften erfasst. Der durchschnittliche Zahlungsanspruch für eine Alleinerziehende betrug im April 2023 1169,08 Euro beziehungsweise 1631,91 Euro bei Bedarfsgemeinschaften.
Die Not ist auch in Münster groß. Die SGB-II-Hilfequote für Kinder-und Jugendliche unter 25 Jahren beträgt in der Domstadt aktuell 5,6 Prozent. Die Quote für Kinder-und Jugendliche unter 18 Jahren ist sogar deutlich höher. Sie beträgt 14,5 Prozent, ist aber im Vergleich zum Dezember 2017 um 1,5 Prozent gesunken. Bundesweit, so die Erhebung des Statistischen Bundesamtes, die im Juli veröffentlicht wurde, sind rund ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland – also rund zehn Prozent mehr als in der Stadt Münster – von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht.
Ausgezahlt werden in Münster knapp fünf Millionen Euro monatlich oder knapp 60 Millionen Euro jährlich. Das verdeutlicht, warum die in Aussicht gestellten zusätzlichen 2,4 Milliarden im Jahr kaum für den zusätzlichen Bedarf ausreichen.
Durch die Bringschuld der öffentlichen Hand entstehen zusätzliche Bedarfe – Schätzungen besagen, dass heute durch Scham oder durch bürokratische Schwierigkeiten jede*r zweite Bedürftige abgehalten wird, einen Antrag zu stellen. Die verschiedenen Sozialleistungen in einer Behörde zu bündeln, wird die Sache künftig auf jeden Fall einfacher machen.
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