Gesundheit & Pflege

Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie

© Edition assemblage
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Eine Buchrezension von Darta Sils

Gesund? Krank? Achtung: Psychisch krank? Wer kann das heute schon so genau sagen. In Zeiten von Burnout, der Psyche als häufigstem Grund für Frühverrentungen, sowie der verbreiteten „Zappelphilipp“-Diagnose ADHS sind psychische Beeinträchtigungen im Mainstream angekommen. Wie ist das zu bewerten und haben wir tatsächlich die Angst davor verloren, als „geisteskrank“ oder gar „irre“ zu gelten? Wer oder was hat die Macht darüber, was als krank gilt und wo zieht man die Grenzen? Oder leben wir in einer kranken Gesellschaft, wenn so viele Menschen aus dem Hamsterrad raus und in die Obhut der Psychiatrie und Psychologie müssen? Solche Fragen stellt der Sammelband wissenschaftlicher Texte „Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychiatrie und Psychologie“ des edition assemblage Verlags aus Münster.

Von Beginn an positionieren sich die Herausgeber als linke Kämpfer gegen das System Psychiatrie als reformbedürftiger Institution und Begleiterscheinung einer ausbeutenden, neoliberalen Gesellschaft. Beispielsweise kritisieren die AutorInnen Nurinkurinen und Lulu die „Vernutzung der Wahre Mensch“ zwecks Kapitalvermehrung und sehen die Ausweitung psychischer Beeinträchtigungen als symptomatisch dafür. Sie betonen, dass psychische Krankheiten keine klare medizinisch-biologische Ursache haben, wie Psychiater und Pharmakonzerne es oftmals postulieren, sondern stark von gesellschaftlichen Normen bestimmt werden.

Spannend ist die Debatte um psychische Diagnosen, die im Buch immer wieder vorkommt: Einerseits kategorisieren und stigmatisieren sie diese Menschen, etwa anhand von immer breiter gefassten Kriterien in der amerikanischen Diagnosebibel DSM-V von 2013 (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders V), welche sogar „Trauer“ nach dem Verlust eines geliebten Menschen oder „Altersverwirrtheit“ zu behandlungsbedürftigen Störungen machen. Andererseits ermöglichen Diagnosen bei den Krankenkassen Therapie und Behandlung, sowie den Kampf um die Anerkennung, auch mit psychischer Krankheit ein „ganz normales“ Leben führen zu können. Dafür plädiert beispielsweise die selbsternannte „Irrenoffensive“ parallel zur Inklusionsbewegung Behinderter, welche sich für Barrierefreiheit und soziale Akzeptanz einsetzt.

Lobenswert ist, dass im Band Autoren aus verschiedenen Disziplinen zu Wort kommen, von Pädagogik über Soziologie bis zur Psychologie; Mediziner oder Neurowissenschaftler sind allerdings leider nicht dabei. Es geht also nicht um eine pauschale Verurteilung von Psychologie und Psychiatrie, sondern vielmehr werden gesellschaftliche und historische Hintergründe herausgestellt, die zu teils verheerenden Herrschaftsstrukturen führen. Letztere münden in verschiedene Arten der Diskriminierung innerhalb der Psychiatrie, etwa Fehlbehandlung aufgrund von Rassismus und Geschlecht oder Abschiebung psychisch Kranker auf Sonderarbeitsmärkte mit Verlust an gesellschaftlichem Status.

Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Andreas Hechler, der am Beispiel seiner ermordeten Urgroßmutter die Geschichte der Vergasung Zehntausender psychisch Kranker durch die Nazis aufzeigt. Er erläutert auch die mangelhafte Aufarbeitung dieses verdrängten Geschichtskapitels, da z.B. aus Angst vor Stigmatisierung die Namen der Getöteten bis heute nicht öffentlich genannt werden dürfen. Vom Nationalsozialismus bis hin zu der Frage, ob man ein behindertes Kind abtreiben würde, verurteilt er den „Ableismus“ der heutigen Gesellschaft, also die Festsetzung von lebenswertem und „unwertem“ Leben, und bleibt so lange im Gedächtnis. Ebenfalls hochzuhalten ist der Aufsatz von Catalina Körner, die anhand des Beispiels vom posttraumatischen Belastungssyndrom PTBS bei Soldaten nach Kriegseinsätzen aufzeigt, wie die Definition dieser Diagnose die Verantwortung für das Leid vom gesellschaftlichpolitischen Bereich in die Privatsphäre des Individuums verlagert und dabei Herrschaftsinteressen, etwa an Öl oder anderen Ressourcen, als Mitursache fürs Krankheitsbild ausblendet.

Wenn man sich als Laie von Fachbegriffen wie Dispositiv, Diskurs oder Kapital nicht abschrecken lässt, bietet dieser lesenswerte Sammelband zahlreiche spannende Perspektiven zum ausdifferenzierten System der Psychiatrie und Psychologie und regt zum Nachdenken an.

Gegendiagnose. Beiträge zur radikalen Kritik an Psychologie und Psychiatrie
Get well soon. Psycho_Gesundheitspolitik im Kapitalismus. Band 1

1. Auflage, August 2015
Edition assemblage, Münster

Cora Schmechel, Fabian Dion, Kevin Dudek, Mäks* Roßmöller (Hg.)