Arbeit und Soziales Urteile Verschiedenes Zum Leben zu wenig

Das Schwarzfahren und seine Gerichtsbarkeit

Schwarzfahrer sind keine Diebe! Welchen Schaden richten sie an? Der ökonomische Schaden ist umstritten, denn der Bus oder die Bahn fährt ja so oder so.

von Christoph Theligmann

Der Schaden ist also ein vermuteter, das macht die Sache selbst bei Fachjuristen so umstritten. Die Nationalsozialisten hatten im Jahr 1935 auf Wunsch der Verkehrsbetriebe das Strafrecht in dem Sinne ausgeweitet, dass sie die Strafbarkeit ins Vorfeld eines wirklichen Schadeneintritts „verlagerten“. Trotz mehrerer Versuche, ihn abzuschaffen, ist der Tatbestand bis heute Teil des Strafgesetzbuches geblieben.
Umstritten ist der Schaden auch deshalb, da im Grunde Schwarzfahren eine zivilrechtliche Angelegenheit zwischen den Fahrgästen und den Verkehrsbetrieben ist. Dem Zivilrecht entnommen, in den Paragrafen 265a des Strafgesetzbuchs versetzt, heißt es seitdem dort nahezu (un)verschämt: „Erschleichen von Leistungen“. Strafrechtler hadern mit dem Begriff „Erschleichen“. Denn ist es ein Erschleichen, wenn man als einzig tätige Handlung einfach nur in den Bus oder die Bahn einsteigt?
Wird also mit strafrechtlichen Kanonen auf zivilrechtliche Spatzen geschossen? Es geht nämlich nur um die zivilrechtlichen Ansprüche der Verkehrsbetriebe. Wie diese an das Geld für ihre Mobilitätsdienstleistungen gelangen, ist erst einmal deren Problem. Strengere, vom Personal geleistete Einstiegskontrollen, mechanische Kontrollschranken, erhöhte Beförderungspreise etc. wären stattdessen die mit Vorrang zu ergreifenden Maßnahmen.
Das Strafrecht ist stets nur das letzte Mittel. Dieses in Deutschland ins Recht gesetzte letzte Mittel kostet uns allen, der Zivilgesellschaft, basierend auf einer rechtlich fragwürdigen Grundlage, nicht gerechtfertigte immense Geld- und Lebenskosten.

HAFT vermeiden!

Ersatzfreiheitsstrafen anstelle von Geldstrafen sind fragwürdig

SPERRE: Guten Tag, Michael Großhauser. Schön, dass wir über Ersatzfreiheitsstrafen sprechen können. Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Personenverkehr sind wir auf das Thema Schwarzfahren gestoßen, auf das Fahren ohne Fahrschein. Manche „Schwarzfahrer“ landen vor Gericht und bekommen eine Geldstrafe. Von denen zahlen manche die Strafe nicht und gehen dafür in den Bau. Kommt so etwas bei der FAGA vor? Wie kommt es zu dieser besonderen Form von Haft ?

Großhauser: Ja, das kommt bei uns vor. Ich kann aber nicht sagen, welchen Anteil das „Schwarzfahren“ bei unserer Klientel ausmacht. Geldstrafen kommen ja bei allen möglichen Delikten vor.
Wer schwarzfährt, kommt nicht sofort in den Knast. Eine Geldstrafe wird auch nicht unbedingt beim ersten Mal, sondern in vielen Fällen erst bei wiederholtem Schwarzfahren verhängt. Schwarzfahren an sich, also das „Erschleichen einer Beförderungsleistung“ ist ja eher ein Bagatelldelikt und in den meisten Fällen eine Folge von Armut und fehlender Stabilität der Lebenssituation.
Uns beiden würde das wahrscheinlich doch kaum passieren. Wir zahlen in der Regel unsere Fahrkarten, vor allem jetzt mit dem 49-Euro-Ticket. Und wenn mal einmal nicht, dann können wir die Strafe zahlen, und gut ist es. Wer aber sowieso schon nicht genug zum Leben hat, kommt eher in die Situation, seine Fahrkarte nicht zu bezahlen und erstrecht nicht das 49-Euro-Ticket. Dann kommt zur nicht bezahlten Fahrkarte und anderen Problemen die Geldstrafe als nächste Forderung obendrauf.

Na Super. Aber wie läuft denn so ein Verfahren mit Geldstrafe ab?

Das interessante dabei ist: Bei einer Geldstrafe wird der Strafbefehl in der Regel ohne Anhörung des Betroffenen erlassen. Der Richter, die Richterin, der Staatsanwalt, die Staatsanwältin befinden über dein Vergehen und eine mögliche Strafe, ohne dich zu befragen. Deine materiellen Verhältnisse und deine Lebenssituation kommen nicht zur Sprache.
Ob du suchtkrank bist, überschuldet, arbeitslos oder sonst wie in einer schwierigen Lebenslage, das wird zunächst nicht berücksichtigt, entschieden wird nach Aktenlage. Da wird nur geguckt: Du bist ein zweites oder drittes Mal ohne Fahrschein erwischt worden. Dafür kriegst du so und so viele Tagessätze Geldstrafe.

Und wie geht das genau?

Ohne es genau zu ermitteln, wird – vereinfacht gesagt – ein Monatseinkommen unterstellt. Das wird durch 30 geteilt. Du musst dann beispielsweise 20 oder 30 Tagessätze zu je 30 Euro Geldstrafe bezahlen. Ich wollte schon mehrfach für einen Betroffenen im Nachhinein den Tagessatz aktualisieren lassen, weil das Einkommen tatsächlich zu hoch angesetzt war. Das hat im Nachhinein nicht geklappt, da die Frist hierfür dann schon abgelaufen war, ohne dass der Klient, die Klientin das wusste. Das ist schon mal eine große Ungerechtigkeit. So kommen Geldstrafen zusammen, die der Betroffene nicht bedienen kann, wo er doch die Fahrkarte schon nicht bezahlen konnte.
Die normale Vollstreckungsreihenfolge ist so: Der Strafbefehl kommt zu dir nach Hause. Dann hast du eine Einspruchsfrist von 14 Tagen, in der du vielleicht noch etwas anführen kannst und möglicherweise führt dies zu einer mündlichen Verhandlung.
Normal ist: Du musst die Summe bezahlen. Du kannst zwar noch Ratenzahlung beantragen, jedoch in der Regel nicht unter 10 bis 15 Euro monatlich. Und das ist bei Bezug von Bürgergeld oder Arbeitslosenhilfe viel Geld, was an anderer Stelle fehlt.

Wieso kommst du dann in den Knast?

Wenn du nicht gezahlt und keinen Ratenantrag gestellt hast oder in Rückstand gerätst, dann kommt noch einmal eine Mahnung. Wenn dann nichts von dir kommt, dann gibt es relativ zügig die Ladung zum Haftantritt , zur Ersatzfreiheitsstrafe. Für jeden Tagessatz musst du bislang einen Tag hinter Gitter. 20 Tagessätze bringen also 20 Tage Knast.

Wenn der mit einer Geldstrafe belegte Schwarzfahrer die Strafe nicht bezahlt, dann kann er in Haft genommen werden. Eigentlich steht ja im Gesetz, „Erschleichen einer Beförderungsleistung“ ist mit Geldstrafe und nicht mit Freiheitsstrafe zu bestrafen. Da passt doch etwas nicht.

Genau, Schwarzfahren beschädigt gesellschaftliche Werte ja nicht in solch einer besonderen Weise, dass dafür im Gegenzug in die Freiheit des Einzelnen eingegriffen werden muss. Im Gegenteil: Die Städte Augsburg und Erlangen haben beschlossen, dass Personenbeförderung auf örtlicher Ebene für alle kostenfrei zur Verfügung gestellt wird.
Mobilität ist wie Schule oder Justiz ein Allgemeingut, man kann nichts erschleichen, es steht jedem und jeder zur Verfügung. In Luxemburg ist Personenverkehr im ganzen Staat kostenfrei.

Die Mahnung zur Zahlung hat nicht funktioniert, wie geht es danach weiter?

Die Ladung zum Strafantritt ist ziemlich lang, fünf Seiten etwa mit viel Rechtsbehelf. Auf der fünften Seite steht schließlich ein Vordruck, dass man zum Ersatz für die Geldstrafe gemeinnützige Arbeit leisten kann. Viele registrieren das nicht, da sie gar nicht bis zur letzten Seite alles lesen. Die Strafantrittsladung musst du erst mal verdauen. Da kommt erst mal der Schock.
Wir haben es mit Armut, mit sozialer Destabilisierung zu tun. Viele unserer Klienten sind überschuldet und leben von kleinen Jobs und Grundsicherung. Wir beobachten einen Anstieg sozialer Notlagen, längere Arbeitslosigkeit oder zu kleine Einkommen mit ergänzendem Bürgergeld, Überschuldung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Da geht der Überblick über die Lebensgestaltung verloren, amtliche Briefe werden nicht mehr aufgemacht und so weiter.

Ersatzfreiheitsstrafe erinnert irgendwie an den Schuldturm im Mittelalter. Kurzer Prozess, harte Hand. Das macht doch gesellschaftliche Folgekosten?

In der Fachwelt gibt es viel Kritik an der Ersatzfreiheitsstrafe, nicht nur wegen der hohen Kosten. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist für den Einzelnen nur kurz. Es betrifft aber insgesamt gesehen sehr Viele, so dass immer mehr als zehn Prozent der Gefängnisinsassen wegen nicht bezahlter Geldstrafen einsitzen.
Schwarzfahren hat bei den uneinbringlichen Geldstrafen und somit bei der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen sicherlich den größten Anteil. Genaue Zahlen haben wir aber nicht.
Die Haft selbst ist für den Staat und somit für uns alle nicht billig. Ein Tag im Knast kostet in Nordrhein-Westfalen etwa 150 Euro.
Zu den Haftkosten kommen die sozialen Kosten: Die Haft reißt Betroffene aus ihren sozialen Bezügen heraus, aus ihren Familien, aus ihrer Arbeit, aus Bildung und Ausbildung. Das schafft neue Probleme, die für die Gesellschaft ebenfalls nicht kostenlos sind. Maßnahmen der Resozialisierung können bei kurzer Haftdauer nicht greifen, es ist nicht möglich, Schulabschlüsse nachzuholen oder beruflich etwas zu lernen oder sozial etwas zu ordnen.

Wie kommt denn die FAGA und die ersatzweise abzuleistende gemeinnützige Arbeit ins Spiel?

Es heißt im Strafrecht, dass die verhängte Geldstrafe bei sogenannter „Uneinbringlichkeit“ ersatzweise durch „freie bzw. gemeinnützige Arbeit“ getilgt werden kann. Dabei sind die betroffenen Menschen mit ihren vielfältigen Problemlagen in erster Linie Zielgruppe sozialer Arbeit und nicht der Justiz, oder anders ausgedrückt: Eine erfolgreiche Kriminalpolitik ist immer eine effektive Sozialpolitik.
Insofern werden freie Träger der sozialen Arbeit mit der Vermittlung und Betreuung gemeinnütziger Arbeit zur Vermeidung der Ersatzfreiheitsstrafe beauftragt. Dabei sind wir als FAGA nicht nur Unterstützerin, sondern auch das Bindeglied zwischen der Klientel, den Einsatzstellen und der Justiz.

Und wie kommen die Leute zur FAGA?

In der Regel bekommen wir eine Zuweisung durch die Staatsanwaltschaft, das Amtsgericht oder die Bewährungshilfe. Zunehmend melden sich die betroffenen Menschen direkt bei uns, da sie uns kennen, oder werden über andere soziale Einrichtungen zu uns vermittelt.
Wir nehmen dann Kontakt zu den Personen auf. Unsere Ansprache kommt schon anders an als ein amtlicher Brief mit Vorladung zum Haftantritt. Wir vermitteln dann nach einem persönlichen Gespräch die Klientin oder den Klienten in eine der von uns gefundenen Einsatzstellen, das heißt unter Berücksichtigung der persönlichen Situation, passgenau, und begleiten die Person bei der Ableistung der Arbeit. Wir haben auch zwei eigene Projekte: die bunte Schule, da werden Schulräume gestrichen, und unser Grünflächenprojekt, in dem es um Pflege von Grünflächen geht.
Das Wichtige ist, dass wir eine stabile Begleitung anbieten. Der stabile Arbeitsrahmen hilft weiter, da kommen dringend zu klärende Probleme zur Sprache. Wir klären die nicht unbedingt selbst, wir vermitteln zu Fachberatungsstellen wie einer Schuldnerberatung, zu einer Sozialberatung und so weiter. Für viele ist der persönliche Bezug zum Anleiter sehr wichtig, um wieder Boden unter die Füße zu kriegen. Und wenn man mal einen früheren Teilnehmer in der Stadt trifft, bekommt man das genauso bestätigt.

Kommt es oft zum Abbruch einer solchen „Freien Arbeit“? Geht es dann in den Knast?

Letztendlich ist es so. Wer abbricht, wer nicht mehr zur Arbeit kommt, den müssen wir nach vergeblichen Versuchen und erneuten Vermittlungen melden. Dann folgt in der Regel nach einer letztmaligen Androhung zum Widerruf eine Ladung zum Strafantritt . Das kommt inzwischen leider häufiger vor.
Zur FAGA kommen jetzt vermehrt Menschen, die mit massiven Problemen zu kämpfen haben und mit ihrer Lebenssituation nicht mehr klarkommen. Oder es geht anders: Wer kann, zahlt die Geldstrafe, dank heute verbesserter Beschäftigungslage und damit besserer Einkommenssituation.

Der Gesetzgeber hat Geldstrafen, Ersatzfreiheitsstrafe und das System der „Freien Arbeit“ gerade verändert.

Genau, die Ersatzfreiheitsstrafe bleibt erhalten, aber sie soll sich ändern. Künftig ersetzt ein Tag hinter Gittern zwei nicht gezahlte Tagessätze. Auch die ersatzweise zu leistende „Freie Arbeit“ wird neu gestaltet. Bisher heißt es: Erst Geldstrafe, dann bei Nichtzahlen ersatzweise Haft und dann möglicherweise ersatzweise gemeinnützige Arbeit.
Künftig läuft es so: vorrangig Geldstrafe, mit dem Strafbefehl aber schon der Hinweis auf die mögliche Beratung und auf ersatzweise zu leistende gemeinnützige Arbeit, und erst als letzte Folge die Haft als Ersatz zur nicht gezahlten Geldstrafe und zur nicht geleisteten Ersatzarbeit.

Grundsätzlich bleibt also das System der Ersatzfreiheitsstrafe.

Unser Verband, der DBH-Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik kritisiert das deutlich: Das ist ein soziales Problem, das mit den Mitteln des Strafrechts nicht zu lösen ist. Zahlungsunfähigkeit darf kein Grund für eine Inhaftierung sein.

Danke für das Gespräch.