aus dem Magazin

Analphabetismus ist noch immer ein großes Tabu

Mehr als 7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung in Münster versteht sich als Service- und Lobbyeinrichtung für die Betroffenen. Über das ALPHA-TELEFON können sie sich anonym beraten lassen. Außerdem möchte der Verband das Thema enttabuisieren und durch verschiedene Kampagnen die Öffentlichkeit sensibilisieren. Die Vereinsmitglieder möchten besonders eines vermitteln: Die Wertigkeit eines Menschen hat nichts damit zu tun, ob er lesen und schreiben kann.

 

Lisa Liesner sprach mit dem Geschäftsleiter Ralf Häder:

Ralf, in der SPERRE kommunizieren wir ja hauptsächlich über das Medium Sprache. Da frage ich mich: Wie erreicht Ihr Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können?
Da gibt es nicht den einen Königsweg. Der Konzeption aller Beratungsmöglichkeiten liegt die Überlegung zugrunde, dass Analphabetismus noch immer ein großes Tabu ist. Betroffene sprechen nicht offen darüber und ziehen sich oft zurück. Zentral ist bei uns deshalb das Angebot ALPHA-TELEFON, weil es eine anonymisierte Beratung bietet. Hierüber erhalten wir auch viele Rückmeldungen aus dem sozialen Umfeld der Betroffenen. Familienangehörige, Krankenhäuser und Beratungsstellen gehören zu unseren täglichen Gesprächspartnern.
Damit man Betroffene erreichen kann, ist es auch wichtig, Kampagnen im Fernsehen, Radio und zunehmend auch in sozialen Netzwerken zu streuen, die das Thema enttabuisieren. Hier setzen wir an: Wir wollen die breite Öffentlichkeit über das Thema informieren, so dass es ein Stück weit zur Normalität wird und sich die Betroffenen nicht mehr stigmatisiert fühlen. Es gibt bereits Fortschritte. Trotzdem ist noch viel zu tun, da nur ein Bruchteil der Betroffenen tatsächlich einen Lese- und Schreibkurs besucht.

Man kann sich gut vorstellen, dass es die Betroffenen im Alltag stark einschränkt, nicht lesen und schreiben zu können. Können sich aus dem Analphabetismus weitere gesellschaftliche Benachteiligungen ergeben?
Die Betroffenen arbeiten oft in schlecht bezahlten Jobs, häufig haben sie auch gar keine Arbeit. Das hat zur Folge, dass Mittel und Einkünfte nicht vorhanden sind. Daraus entstehen weitere Probleme. Häufig werden Briefe nicht entziffert und in der Folge Rechnungen nicht bezahlt. Oder medizinische Hinweise auf Arzneimittel nicht befolgt. So kumulieren Probleme, und es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob der Grund für eine unterbezahlte Tätigkeit allein im Analphabetismus zu suchen ist oder ob gesundheitlichen Einschränkungen oder finanzielle Engpässe keine besseren Jobmöglichkeiten zulassen.

Du sprachst bereits die Arbeitsverhältnisse an. Ist bekannt, in welchen Branchen die Betroffenen arbeiten?
Laut der sogenannten leo. – Level-One – Studie von 2011 gehen mehr als die Hälfte der Betroffenen einer Beschäftigung nach. Die meisten von ihnen sind aber in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt, gekennzeichnet durch kurzfristige Tätigkeiten, häufige Jobwechsel sowie Zeitarbeit.

BezieherInnen von Arbeitslosengeld II werden oft zum Spielball von Behörden. Sind AnalphabetInnen von diesem Problem vielleicht sogar noch stärker betroffen?
Ja, auf jeden Fall. Durch die Unkenntnis der BeraterInnen geraten die Betroffenen schnell in eine falsche Schublade, nach dem Motto: „Der will ja gar nicht“ oder „Die hat gar keine Kompetenzen.“ Wenn wir MitarbeiterInnen schulen, gibt es dann oft „Aha-Effekte“, da sie das Verhalten der Menschen besser einordnen können. Wenn sich die BeraterInnen der verschiedenen Institutionen mehr auf die Problemlagen der Betroffenen einstellten, könnte viel verbessert werden. Mit Akzeptanz und Wertschätzung kann man dann gemeinsam überlegen, was dem einzelnen Menschen in seiner Situation helfen kann.

Analphabetismus PlakatFunktionale Analphabeten* fühlen sich oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Wie können wir Barrieren abbauen und diesen Menschen eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen?
Wenn wir es als normal akzeptieren, dass das ein Erscheinungsbild unserer Gesellschaft ist, dann haben wir viele Möglichkeiten, damit umzugehen: Zum Beispiel die „Vorlesefunktion“ auf Internetseiten oder die Wahl einfacher Sprache. Das ist zwingend notwendig und wird bereits vielfach gemacht. Jede(r) Einzelne von uns kann für sich selbst noch mal prüfen: Ist das, was ich schreibe und sage, für den oder die EmpfängerIn verständlich? Wenn ich es als Normalität akzeptiere und damit keine Wertigkeit verbinde, kann ich mit den Menschen auch ganz anders umgehen. Dies wiederum eröffnet den Betroffenen die Möglichkeit, das Schweigen zu brechen und offen darüber zu reden, wie es einem damit geht. Das kann gut tun und Mut machen, die eigenen Lese- und Schreibkenntnisse zu verbessern.

7,5 Millionen AnalpahabetInnen allein in Deutschland – das ist eine erschreckend hohe Zahl. Viele werden sich fragen: Wie ist das trotz unseres Bildungssystems möglich?
Das passiert auf ganz unterschiedlichen Wegen. Das können traumatische Ereignisse in der Kindheit sein. Wenn sich ein Kind dann zurückzieht, wird es in der Fremdwahrnehmung oft zu einem „dummen“ Kind. Ein Stück weit ist es also die Gesellschaft, die es dem Kind schwer macht. Die Schulzeit ist dann oft geprägt von sozialer Ausgrenzung, was zur Folge hat, dass die Betroffenen oft jahrzehntelang nichts mit Schule zu tun haben wollen.
Weiter spielt das Elternhaus eine Rolle. Bietet es genug Stabilität? Legt die Familie Wert auf Lesen und Schreiben? Gibt es vielleicht Probleme, die die Eltern voll in Anspruch nehmen? Es gibt auch Familien aus der Mittel- und Oberschicht, in der die Eltern sich sehr auf ihren beruflichen Erfolg fokussieren. Die Kinder fühlen sich dann abgeschoben.
Die Stigmatisierung ist heute vermutlich schlimmer denn je, da Bildung in unserer Gesellschaft immer wichtiger geworden ist. Dadurch ist der Druck auf die Kinder und auch die Eltern viel höher. Menschen, die nicht lesen und schreiben können, ziehen sich dann mehr und mehr zurück.

Welche Forderungen stellt der Bundesverband?
Wir fordern bundesweite und kostenlose Alphabetisierungsangebote. Diese muss es flächendeckend geben, auch wenn es in ländlichen Gebieten eventuell nur wenige TeilnehmerInnen gibt. Zusätzlich muss die anonyme Beratungshotline ALPHA-TELEFON, Rufnummer (0800) 53 33 44 55, öffentlich finanziert werden, damit mündliche Informationen und Beratungen für Betroffene jederzeit verfügbar sind. Als dritte wichtige Forderung ist ein gut geschultes Personal zu nennen, um auch binnendifferenzierte Angebote machen zu können, da nicht alle TeilnehmerInnen auf der gleichen Lernstufe sind.
Die Erfahrung der Betroffenen zeigt, wie wichtig Lese- und Schreibkurse sind. Hier haben sie oft zum ersten Mal das Gefühl, trotz ihrer Einschränkungen angenommen zu werden. Darüber hinaus spüren sie sehr schnell einen Zugewinn an Lebensqualität, der mit der steigenden Lesekompetenz einhergeht. Beim Einkaufen oder bei der Orientierung in der Stadt sind die Verbesserungen direkt zu sehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

 

* Funktionale Analphabeten können zwar Buchstaben erkennen und sind durchaus fähig, ihren Namen oder einige Wörter zu schreiben. Sie sind jedoch nicht in der Lage, den Sinn eines etwas längeren Textes überhaupt zu erfassen oder unmittelbar und ohne Mühen zu verstehen, um einen praktischen Nutzen daraus zu ziehen.

 

Weitere Infos:
Der Bundesverband
leo. – Level-One-Studie