Arbeit und Soziales Kommentar

Die Uhr zurückgestellt

Die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende wird eine „Winterzeit“ in der Arbeitslosenpolitik einläuten

Von Norbert Attermeyer

Die neue Bundesregierung hat sich vorgenommen, bei dem Thema Arbeit und Soziales kräftig zurückzurudern – hin zu Zeiten, die eigentlich schon längst überwunden schienen. Die neue „Grundsicherung für Arbeitsuchende“, die das gerade erst eingeführte Bürgergeld wieder ablösen soll, verheißt nichts Gutes.

Dass es sich dabei nicht nur um eine reine Namensänderung handeln wird, lassen die Ausführungen im neuen Koalitionsvertrag erahnen. Da heißt es beispielsweise: „Für Menschen, die arbeiten können, soll der Vermittlungsvorrang gelten.“ Und weiter: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt eine zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“ Der bisherige im Bürgergeld geltende Vorrang von Weiterbildung und Qualifikation soll für jeden Arbeitsfähigen somit abgeschafft werden. Stattdessen hat die Sofortvermittlung um jeden Preis wieder Vorrang. Und zumutbar ist nahezu jede Arbeit, zu der jemand körperlich oder geistig in der Lage ist. Sollten betroffene Arbeitslose sich nicht kooperationswillig zeigen, können die Leistungen in Zukunft auch ganz entzogen werden.

Was wiederum verfassungswidrig wäre. Denn Deutschland ist gemäß Artikel 20 des Grundgesetzes ein Sozialstaat. Und es steht der Regierung nicht zu, Menschen auszuhungern, um sie so in irgendeine Arbeit zu pressen.

Die Richtung ist klar: Aus Bürgergeld will die neue Regierung wieder das längst tot geglaubte Hartz IV machen, und dies mit allen vorhersehbaren Folgen für die Betroffenen.

Sie sorgen bis weit in die Mittelschicht hinein für Zukunftsangst und Unsicherheit

Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbandes Dr. Joachim Rock sieht die „neue Grundsicherung“ kritisch: „Das verstärkt Armut, fördert Ressentiments und ist außerdem das Gegenteil von dem, was wir brauchen.“ Verschärfte Sanktionen helfen niemanden aus der Armut. Im Gegenteil, so der Verbandschef: „Sie belasten Familien und sorgen bis weit in die Mittelschicht hinein für Zukunftsangst und Unsicherheit.“

Das ist Zukunftsangst und Unsicherheit als sozialpolitisches Versprechen. Dabei galt Hartz IV in Fachkreisen schon längst als ein gescheitertes Sozialexperiment. Wobei es bei der Einführung vor zwanzig Jahren doch so logisch klang: Arbeitslose müssen nur genug Druck bekommen, um irgendeine Arbeit anzunehmen und schon kann die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden. „Fördern und Fordern“ eben. Wobei sich das Fördern im Wesentlichen in der Schaffung von 1-Euro-Jobs erschöpfte.

In dieser Sichtweise, die dem Neoliberalismus entspringt, ist Arbeitslosigkeit immer freiwillig und somit selbst verschuldet. Wer keine Arbeit hat, muss nur bereit sein, für weniger Geld zu arbeiten, dann findet er auch einen Job. Also runter mit den Regelsätzen und die Zumutbarkeitsregeln verschärfen. Hartz IV eben, so wie es seit 2005 angewandt wurde, und wie es aus heutiger Sicht gescheitert ist. Denn der Anteil der Langzeitarbeitslosen verharrt auf einem hohen Niveau, und die Armutsgefährdungsquote ist seit 2005 deutlich gestiegen. Mit Billigjobs ist eben kein (Sozial)staat zu machen.

Arbeitslosigkeit entsteht nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern auf den Waren- und Gütermärkten

Der Chefökonom von Verdi Dierk Hirschel geht in seiner Kritik an Hartz IV noch einen Schritt weiter: “Arbeitslosigkeit ist kein Problem zu hoher Löhne, sondern zu geringer Nachfrage.“ So der Ökonom in einer Ausführung zu diesem Thema. Spätestens seit John Maynard Keynes1 wissen wir, dass Arbeitslosigkeit nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern auf den Waren- und Gütermärkten entsteht. Arbeitslosigkeit ist eine Krisenerscheinung des kapitalistischen Systems. Da hilft nur wirtschaftspolitisches Krisenmanagement. Was aber gar nicht hilft, ist hierfür den Arbeitslosen die Schuld in die Schuhe zu schieben.

Zur Erinnerung: Es gab einmal eine große Errungenschaft des Sozialstaates, nämlich die Einführung der Arbeitslosenversicherung. In den besten Zeiten gab es hier ein hohes Arbeitslosengeld bei einer langen Bezugsdauer, verbunden mit einem hohen Qualifikationsschutz. Dies alles sollte sozialpolitisch die schwächere Verhandlungsposition der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt stärken.
Aber das ist schon lange Schnee von gestern. Wer heute seinen Job verliert, dem droht nach einem Jahr der „Sturz in den Armutskeller“, so Hirschel in seiner Stellungnahme.

Foto: Agneta Becker

Es ist sehr schwer, das Hartz IV – System wieder zu verlassen

Nun soll dieser „Armutskeller“ wieder die Antwort auf die heutigen sozialpolitischen Herausforderungen sein. Wobei die Erkenntnisse aus jahrelangem Hartz IV schlicht geleugnet werden. Denn es ist sehr schwer, das System wieder zu verlassen. Nach einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) sind viele kurzfristig Vermittelte spätestens nach einem Jahr wieder in Hartz IV. Eine nachhaltige Integration – so die Expertise – kann aber nur gelingen, wenn hierfür auch entsprechend Zeit und Geld in die Hand genommen wird. In Zeiten knapper Kassen und enger Ressourcen allerdings ein schwieriges Unterfangen.

Das Bürgergeld war mal gestartet mit dem Versprechen, Weiterbildung und Qualifizierung zu stärken, um eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten; und so den Sockel an Langzeitarbeitslosen deutlich abzubauen. Allerdings mochte der Finanzminister Lindner (FDP) der Ampel-Koalition kein Geld dafür bereitstellen. Und so konnte das Bürgergeld nie das leisten, was es hätte leisten können.

Wahnsinn mit Methode

Zukünftig besteht vor allem die Gefahr, dass sich die Jobcenter im Wesentlichen auf diejenigen Arbeitslosen konzentrieren, die aus ihrer Sicht besser vermittelbar sind. Allein die Kürzungsbeschlüsse in diesem Bereich werden ihnen kaum eine andere Wahl lassen. Die Jobcenter stehen unter Erfolgsdruck. Die einfachen und vielversprechenden Fälle sind gut für die Vermittlungsstatistik. Für die „passgenaue“ und „individuelle“ Vermittlung, die „intensive Begleitung“, von der Arbeitsmarktpolitiker gerne sprechen, wird es keine Zeit mehr geben. An Geld fehlt es außerdem sowieso. Auf der Strecke bleiben werden die Langzeitarbeitslosen. Und der Verstand. Während die Politik unbeirrt alten und gescheiterten Wegen folgt.

Albert Einstein hat dies einmal so formuliert: „Die Definition von Wahnsinn ist: Immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“

1 John Maynard Keynes, britischer Ökonom, lebte von 1883 – 1946. Seine Erkenntnisse veränderten die Weltwirtschaftspolitik grundlegend. Die zentrale Botschaft seiner General Theory besteht darin, dass das marktwirtschaftliche System auch bei flexiblen Preisen und Löhnen nicht automatisch zur Vollbeschäftigung tendiert, wie es die VertreterInnen des Neoliberalismus gerne behaupten. Vielmehr kann das marktwirtschaftliche System auch langfristig in einem Zustand der Unterbeschäftigung verharren; in diesem Fall soll der Staat (Regierung und Notenbank) zu finanz- und geldpolitischen Mitteln greifen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage wieder an das Niveau heranzuführen, bei dem Vollbeschäftigung herrscht.