Kommentar

Vorstadtkrokodile

Ein Sozialroman über Inklusion, Teilhabe und Gerechtigkeit

Von Regina Ioffe

Vor 50 Jahren ist im Bertelsmann Jugendbuchverlag ein besonderes Buch erschienen: Vorstadtkrokodile – Eine Geschichte vom Aufpassen von Max von der Grün (1926–2005). Der Autor lebte überwiegend in Dortmund, arbeitete einige Jahre im Bergbau und thematisierte in seinem Roman Armut, Ausgrenzung und den Wert von Mut, Freundschaft und Inklusion.

Der 1976 erschienene Klassiker der Vorstadtkrokodile bekam 2010/13 zwei Nachfolgebände anderer Autoren

Ausgrenzung und Misstrauen

Der Roman thematisiert die zu damaligen Zeiten herrschende Ausgrenzung und Bevormundung von Menschen mit Behinderung. Sie erlebten Misstrauen von Ärzten, Nachbarn, sogar von den eigenen Eltern. Auch zeigt das Buch die Ausgrenzung und Vorurteile gegenüber Migranten in den 70er-Jahren.

Zu Beginn hat Kurt, ein querschnittgelähmtes Kind, der im Rollstuhl sitzt, kaum Berührungspunkte mit Kindern ohne Behinderung. Er besucht eine Sonderschule. Diese Trennung nach einem einzigen Merkmal – der Behinderung – spiegelt eine gesamtgesellschaftliche Spaltung wider.

Es sind nach 50 Jahren viele positive Änderungen im Bereich der Integration von Menschen mit Behinderung und Migranten geschehen. Aber auch heute erleben wir noch unnötige Trennungen, etwa wenn Kinder in Deutschland sehr früh, bereits mit zehn Jahren anhand der Schulnoten, in unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden. Oder wenn Migranten überwiegend in benachteiligten Stadtteilen Mietwohnungen bekommen und ausgegrenzt leben.
Es ist noch viel zu tun, um die Ausgrenzung und Vorurteile zu überwinden – somit bleibt das Buch weiterhin aktuell.

Ein Kind mit Behinderung als Held

Kurt ist mutig, klug und reif, er steht für prosoziale Werte wie Freundschaft, Rücksicht und Hilfsbereitschaft. Der Roman fordert dazu auf, Menschen mit Behinderungen mehr zuzutrauen – nach dem Prinzip „Learning by doing“. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Ein Zitat aus dem Buch bringt es auf den Punkt: „Hast du es denn schon mal probiert?… Dann kannst du auch nicht wissen, ob du es kannst oder nicht.“ Die Kinder, die „Vorstadtkrokodile“, beginnen Kurt mit anderen Augen zu sehen, nicht mehr nach Defiziten, sondern nach Fähigkeiten, sie akzeptieren ihn als gleichwertiges Mitglied ihrer Gruppe.

Tiefgreifende ethische Fragestellungen

Der Roman „Vorstadtkrokodile“ kämpft mit sozialen Klischees: Karli, einer der Einbrecher, ist Sohn eines Polizisten. Somit zeigt der Autor, dass vom Risiko eines delinquenten Verhaltens alle Schichten und nicht nur die „sozial Schwachen“ betroffen sind. Die soziale Herkunft allein entscheidet nicht über die Moral.

Noch ein wichtiges und tiefgreifendes Thema im Sozialroman ist das Abwägen von Loyalität gegenüber der Familie und Gerechtigkeit gegenüber der Gesellschaft am Beispiel von Frank, dem Sohn eines Fabrikvorarbeiters, der von Verbrechen seines Bruders Egon erfährt.

Protagonist Kurt, das Kind mit Behinderung, zeigt eine außergewöhnliche ethische Reife, Geduld, Rücksicht auf andere und wird zum moralischen Impulsgeber der Kindergruppe. Er handelt respektvoll und solidarisch gegenüber Frank und anderen Mitgliedern. Er gibt sogar Einbrecher eine Chance sich zu bessern, die sie aber nicht nutzen.

Gesellschaftliche Missstände und Aufruf zur Barrierefreiheit

Schon vor 50 Jahren prangert der Roman gesellschaftliche Missstände an, die bis heute aktuell sind: etwa den schlechten Zustand von Wohnhäusern, in denen Gastarbeiter leben – ein Thema, das sich heute in vielen Sozialwohnungen für neu zugewanderte Menschen fortsetzt.

Auch das Leben mit einer Behinderung wird realistisch und scharf dargestellt: Es ist mit hohen Kosten verbunden, erfordert Hilfsmittel wie Rollstühle, spezielle Möbel und bauliche Anpassungen wie Rampen und Aufzüge. Der Roman ist ein Aufruf zur Barrierefreiheit, was für damalige Zeiten sehr zukunftsweisend war. Seit dem ist viel passiert: barrierefreie Verkehrsmittel und Gehwege, Pflichtvorgaben für Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden. Aber auch heute fehlen bauliche Anpassungen noch häufig, z.B. sind einige Arztpraxen und ein überwiegenden Anteil von Schulen, ca. 80% nicht barrierefrei. Somit bleibt das Buch weiterhin wegweisend. Barrierefreiheit bleibt ein Dauerbrenner.

Mehr als ein Kinderkrimi – Ein Sozialroman für alle Altersgruppen

Ein großes Lob an Lehrer, die den Roman für Ihre Schüler zum Lesen anbieten. Nur schade, dass er kein Pflichtstoff für die Schulen ist. Er ist nicht nur für zehnjährige Kinder geeignet, jede Altersgruppe kann darin etwas Wertvolles für sich entdecken.

„Vorstadtkrokodile“ wird oft als Kinderkrimi oder Freundschaftsgeschichte beschrieben – in der Bücherei oder im Schulunterricht. Doch das greift zu kurz. Der Roman ist ein Sozialroman: Er behandelt Themen wie Arbeitslosigkeit und Armut, Ausgrenzung und Vorurteile, Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe. Leider wird im Schulunterricht oft nur über Mutproben und Freundschaft gesprochen – nicht aber über die zentrale Botschaft: Beseitigung der Hindernissen und die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Minderheiten.

Dieser Roman ist seiner Zeit weit voraus. Was Max von der Grün beschreibt, ist keine überwundene historische Episode, sondern ein bis heute fortbestehendes gesellschaftliches Problem. In der heutigen von Wirtschaft bestimmenden Zeit werden leider soziale Programme, Finanzierungshilfen für Menschen mit Behinderungen in vielen westlichen Staaten gekürzt, ein Versuch die Uhr zurückzustellen. Der Roman mahnt dagegen. Auch mit dem Satz: „Das kann jeden Menschen betreffen.“

Max von der Grün: Vorstadtkrokodile Eine Geschichte vom Aufpassen; München; Omnibus; 2007; 160 Seiten; ISBN 978-3-570-21665-1; Ausleibar in der Hauptstelle der Stadtbücherei Münster.