Arbeit und Soziales

Ist uns das Soziale noch gut und teuer?

Der Sozialstaat gerät unter Druck

Von Christoph Theligmann

Ist der Sozialstaat zu groß geworden? Fest steht: Die Sozialausgaben sind stark gewachsen. Laut Bundesarbeitsministerium gibt Deutschland inzwischen über 31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Sozialleistungen aus – so viel wie nie zuvor außerhalb der Corona-Ausnahmesituation. Bereits kleine prozentuale Steigerungen bedeuten Milliardenbeträge. Ob dies allerdings „zu teuer“ ist, bleibt eine politische Wertung.

Wenn selbst der Regierungschef verkündet, der heutige Sozialstaat sei volkswirtschaftlich kaum noch zu finanzieren, sorgt das für Unruhe. Zwar übertreibt dieser Satz, denn das System besteht weiterhin. Dennoch sehen viele Liberalkonservative den Sozialstaat als zu teuer und ineffizient. Dazu kommen steigende Kosten durch die Alterung der Gesellschaft. Die Sozialpolitik bleibt ein zentraler Streitpunkt – auch innerhalb der Regierungskoalition zwischen Union und SPD.

Bild: Agneta Becker

Ist der Sozialstaat zu groß geworden?

Warum steigen die Sozialausgaben? Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung liegt das Wachstum der letzten Jahrzehnte nicht primär bei Rente und Gesundheit. Besonders die Familienpolitik wurde massiv ausgebaut. Kinder- und Jugendhilfe haben sich seit den 1990er Jahren mehr als verfünffacht, unter anderem durch mehr Kita-Angebote.

Wird Deutschland dadurch sozialer? Höhere Ausgaben bedeuten nicht automatisch mehr Gerechtigkeit. Der deutsche Sozialstaat begünstigt häufig die Mittelschicht, weil Leistungen an vorherige Einzahlungen gekoppelt sind. Rund 40 Prozent staatlicher Transfers gehen an die einkommensstärkere Hälfte. Einschnitte in bestehende Leistungen stoßen jedoch auf starken politischen Widerstand. Die Interessensvertretungen dieser Mittelstandsgruppen machen in diesem Fall einen „guten Job“.

Spielt das Bürgergeld eine große Rolle?

Eine vergleichbare Lobby hat das Bürgergeld, die Grundsicherung nicht aufzuweisen. Ist das Bürgergeld jedoch der Kostentreiber? Nein! Die Ausgaben für die bald Grundsicherung genannte Sozialleistung bewegen sich seit Jahren stabil um 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und liegen sogar unter dem Niveau von vor 20 Jahren. Konjunktur und Arbeitsmarkt spielen eine deutlich größere Rolle.

Ist daran allein die Demografie schuld?

Das kann man so nicht sagen, denn auch politische Entscheidungen verteuern die Sozialsysteme erheblich. Beispielsweise will Schwarz-Rot die Renten künftig schneller steigen lassen und die sogenannte Mütterrente an mehr Personen auszahlen. Das kostet viele Milliarden Euro zusätzlich. In der Pflege ist der demografische Wandel noch gar nicht angekommen, die Babyboomer sind – statistisch gesehen – bislang nicht im Pflegeheim. Trotzdem steigen die Ausgaben in der Pflege rasant, vor allem weil frühere Regierungen die Leistungen ausgebaut haben.

Auch in den Krankenkassen ist der demografische Wandel bisher gar nicht richtig angekommen. Wer heute 61 ist, verursacht im Durchschnitt weniger Kosten im Gesundheitssystem als ein Baby. Die teuersten Lebensjahre sind statistisch gesehen die allerletzten. Trotzdem steigen die Kosten für die Krankenkassen in den kommenden Jahren besonders stark, wenn sich nichts ändert. Denn das deutsche Gesundheitssystem gilt im internationalen Vergleich als ineffizient. Die Deutschen gehen öfter zum Arzt, und sie liegen häufiger und länger im Krankenhaus als in anderen Staaten, in denen Menschen trotzdem länger leben.

Wie geht es weiter?

Steigende Sozialabgaben sind demnach kein demografisches Schicksal. Mit entsprechenden Maßnahmen könnten die Kassenbeiträge konstant gehalten werden, hat das IGES-Institut (Institut für Gesundheits- und Sozialforschung) vorgerechnet. Und die Ökonomen vom Sachverständigenrat haben Vorschläge gemacht, wie die Rentenkosten eingedämmt werden könnten. Kanzler Merz kündigt immer wieder an, Reformen mit Verve angehen zu wollen. „Ich werde mich durch Worte wie ‚Sozialabbau‘ und ‚Kahlschlag‘ nicht irritieren lassen“, sagt er. Es wird sich zeigen, ob dieser Satz stimmt oder allein durch seine Wortwahl „Kahlschlag“ und „Sozialabbau“ bereits eine offensichtliche Gerechtigkeitssensibilität vermissen lässt.

Fest steht: In den kommenden Jahren geraten Rente, Kranken- und Pflegeversicherung stark unter Druck. Ohne Veränderungen dürften die Sozialabgaben bis 2035 nahezu 50 Prozent erreichen. Außerdem wird ein wachsender Teil des Bundeshaushalts in die Sozialkassen fließen, was Investitionen in andere Bereiche erschwert.

Politische Leistungsversprechen verteuern das System zusätzlich. In der Pflege steigen die Ausgaben wie erwähnt schon heute kräftig. Im Gesundheitswesen treffen ineffiziente Strukturen auf erhöhte Nachfragen. Fachleute mahnen Veränderungsbereitschaft an, um die Kosten zu dämpfen. Der Kanzler verspricht entschlossenes Handeln. Wie wäre es, nicht ständig über Reformen zu Lasten des unteren Drittels der Gesellschaft zu diskutieren, sondern über die Finanzierungsverantwortung des oberen finanzstarken Fünftels der Bevölkerung mehr als hohle Worte zu verlieren und stattdessen Taten folgen zu lassen.