Bundesregierung fährt Schlitten mit dem wichtigsten Grundgesetzartikel
Von Norbert Attermeyer
Das Vorhaben der Bundesregierung, sogenannten „Totalverweigerern“ sämtliche Leistungen zu entziehen und sie zur Not in die Obdachlosigkeit zu entlassen, wirft Fragen auf. Warum wird den wenigen Betroffenen das vorenthalten, was Schwerverbrechern selbstverständlich gewährt wird: ein Dach über den Kopf und genügend zu essen?

In den juristischen Fachkreisen wird schon von einem offenen Verfassungsbruch der Bundesregierung gesprochen. Oder ist am Ende alles nur halb so wild? Zur Erinnerung: Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erwächst aus Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nach Artikel 20 Abs. 1 GG das Recht eines jeden Menschen auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Hierbei handelt es sich um ein Grundrecht und nicht nur um eine staatliche Pflicht. Das heißt, jeder Mensch in Deutschland hat ein Anrecht auf dieses Existenzminimum. Und es umfasst nicht nur das physische Existenzminimum, sondern auch das soziokulturelle Existenzminimum. Dies bedeutet auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
Das physische Existenzminimum bedeutet die Absicherung grundlegender Bedarfe für Kleidung, Unterkunft, Hausrat, Heizung, Hygiene und Ernährung. In seinem Urteil vom 5. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht zudem Folgendes festgestellt:
„𝘋𝘢𝘴 𝘮𝘦𝘯𝘴𝘤𝘩𝘦𝘯𝘸𝘶̈𝘳𝘥𝘪𝘨𝘦 𝘌𝘹𝘪𝘴𝘵𝘦𝘯𝘻𝘮𝘪𝘯𝘪𝘮𝘶𝘮 (…) 𝘥𝘢𝘳𝘧 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘨𝘦𝘬𝘶̈𝘳𝘻𝘵 𝘸𝘦𝘳𝘥𝘦𝘯. 𝘋𝘪𝘦 𝘔𝘦𝘯𝘴𝘤𝘩𝘦𝘯𝘸𝘶̈𝘳𝘥𝘦 𝘴𝘵𝘦𝘩𝘵 𝘢𝘭𝘭𝘦𝘯 𝘻𝘶 – 𝘶𝘯𝘥 𝘨𝘦𝘩𝘵 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘥𝘶𝘳𝘤𝘩 𝘷𝘦𝘳𝘮𝘦𝘪𝘯𝘵𝘭𝘪𝘤𝘩 ‘𝘶𝘯𝘸𝘶̈𝘳𝘥𝘪𝘨𝘦𝘴’ 𝘝𝘦𝘳𝘩𝘢𝘭𝘵𝘦𝘯 𝘯𝘪𝘤𝘩𝘵 𝘷𝘦𝘳𝘭𝘰𝘳𝘦𝘯.“
Allerdings hat der Staat die Möglichkeit, in einem gewissen Spielraum festzulegen, wie hoch die Leistungen im Einzelnen beziffert werden. Und dieser Spielraum wird genutzt. Das Bundesverfassungsgericht billigt dies, hat aber festgelegt, dass die Höhe des Bürgergeldes (oder neue Grundsicherung) nicht „evident unzureichend“ sein darf.
Nach den zwei staatlich verordneten Nullrunden für 2025 und 2026 dürfte allerdings mehr als zweifelhaft sein, dass die Höhe des Regelsatzes tatsächlich noch ausreichend ist. Die Gewerkschaft NGG weist bereits jetzt auf „zahlreiche ernährungswissenschaftliche Studien (hin), die belegen, dass sich Bürgergeldbeziehende aufgrund der hohen Kosten häufig nur so ernähren können, dass ihre Gesundheit geschädigt wird“.
Die privaten Tafeln sind kein Bestandteil unseres Sozialsystems und dürfen auch nicht hierfür in Anspruch genommen werden

Deutschland ein menschenwürdiges Existenzminimum – Foto: Agneta Becker
Schon jetzt sind die Betroffenen auf die Unterstützung durch die Tafeln angewiesen. Die privaten Tafeln sind aber kein Bestandteil unseres Sozialsystems. Sie legen lediglich ein beredtes Zeugnis ab von der stetig wachsenden Armut in unserem Land. In einem funktionierenden Sozialstaat würde es sie gar nicht geben. Es bleibt die Aufgabe das Staates, Bürgergeldbeziehende in die Lage zu versetzen, ihre Ernährung über die Lebensmitteldiscounter sicher zu stellen, so wie andere Menschen auch. Die angestrebten „Reformen“ werden die Schlange bei den Tafeln gehörig wachsen lassen.
In einem Gastbeitrag für die NGG weist Dr. Annalena Mayr darauf hin, dass nicht nur das Grundgesetz Vorgaben zum Existenzminimum macht. Die Bundesregierung hat auch im UN-Sozialpakt jedem Menschen in Deutschland ein menschenwürdiges Existenzminimum garantiert. Dies wird regelmäßig kontrolliert. Die UNO kritisierte Deutschland bereits im Jahr 2011 und im Jahr 2018 scharf. Im Staatenberichtsverfahren des Ausschusses zum UN-Sozialpakt wurde insbesondere die Höhe der sozialen Grundleistungen kritisiert. Es wurden Zweifel geäußert, ob die Leistungen ausreichend seien, um den Leistungsbeziehenden einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Den Grund hierfür sah der Ausschuss in der Berechnungsmethode, welche überprüft und verbessert werden solle.
Ganz mittelalterlich werden die Daumenschrauben angezogen
Und jetzt gibt es die „Verbesserung“ in Form von zwei Nullrunden. Mit der neuen Grundsicherung hat die Bundesregierung eine Art Turbo-Hartz4 beschlossen. Ganz mittelalterlich werden die Daumenschrauben angezogen. Bei Terminversäumnissen: 30 Prozent Kürzung nach zwei Terminen, 100 Prozent Kürzung nach drei Terminen. Entzug von Regelsatz und Miete nach vier Terminen. Bei Pflichtverletzungen: 30 Prozent Kürzung nach einem Verstoß, 100 Prozent bei Ablehnung eines Arbeitsangebots. Entzug von Regelsatz und Miete nach mehrfacher Ablehnung.
Zusätzlich soll das Schonvermögen und die Karenzzeit gekürzt und der alte Vermittlungsvorrang wieder eingeführt werden. Es ist zu erwarten, dass nicht viele dieser Vorhaben vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben werden. Aber bis dies vor dem obersten Gericht landet, wird einiges an Zeit vergehen. Und bis dahin werden viele Termine und Beratungen im Jobcenter von Angst geprägt sein. Vertrauensvolle, motivierende Beratung, ganz zu schweigen von Gesprächen „auf Augenhöhe“ sind anscheinend nicht gewollt. Und wofür das Ganze? Um Totalverweigerer zu jagen?

100 von 5,5 Millionen Bürgergeldbeziehenden müssen als Grund für das neue Turbo-Hartz 4 herhalten
Betrachtet man die Zahlen einmal genau, sollte Ernüchterung eintreten. Von den 5,5, Millionen Menschen im Leistungsbezug sind knapp 2 Millionen Kinder und Jugendliche. Rund 800.000 arbeiten bereits und müssen mit Bürgergeld ihren Lohn aufstocken.
Weitere 1,1 Millionen stehen dem Arbeitsmarkt derzeit gar nicht zur Verfügung, weil sie Angehörige pflegen, Kinder betreuen, einer Ausbildung oder Maßnahme nachgehen oder erkrankt sind. Laut dem Forschungsinstitut der Arbeitsagentur dem IAB konnten im vergangenen Jahr nur 100 vermeintliche Totalverweigerer festgestellt werden. 100 von 5,5 Millionen Bürgergeldbeziehenden müssen als Grund für das neue Turbo-Hartz 4 herhalten.
Aber Tatsache ist: es fehlen 30 Milliarden im Bundeshaushalt und die Bundesregierung erwartet insbesondere im Sozialbereich ein großes Einsparpotential. Seien doch gerade hier die Kosten in den vergangenen Jahren aus dem Ruder gelaufen.
Die Ökonomin Katja Rietzler von der Hans-Böckler-Stiftung findet hierfür allerdings keine Belege: „Erstaunlicherweise sind die Ausgaben für das Bürgergeld 2024 im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gegenüber 2010 sogar leicht zurück gegangen – und das, obwohl viele Geflüchtete aus der Ukraine und von anderswo nach Deutschland gekommen sind und teils Bürgergeld beziehen.“
Bei der Rente sieht sie eine ähnliche Entwicklung. Die Zahl der Rentner steige zwar, aber die Ausgabenquote sei für die Rente heute niedriger als in den frühen Zweitausendern. Auch war der Beitragssatz in der Rente schon einmal 1,3 Prozentpunkte höher als heute.
Verteilungspolitisch sieht Rietzler die angestrebten Sozialkürzungen der Bundesregierung allerdings als hochproblematisch. Und verweist auf eine Stellungnahme des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) für den Finanzausschuss. Dem zufolge kommt die ebenfalls angestrebte Körperschaftssteuersenkung zum großen Teil, dem obersten Prozent zugute, Also den absoluten Spitzenverdienern.
„Oben pulvert man es raus und bei den Ärmsten will man es reinholen.“
Und zur Not wird hierfür auch schon mal der offene Verfassungsbruch riskiert.
