Arbeit und Soziales Kommentar

Bürgergeld unter Generalverdacht

EU-Bürger*innen werden zur Zielscheibe von Populist*innen und Medien

Öffentlicher Aufruf

Die Hetze, die momentan gegen von Armut betroffene EU-Bürger*innen betrieben wird, ist unerträglich. Auf Initiative von Armut und Gesundheit in Deutschland e.V., Medinetz Mainz, Medinetz Koblenz, Clearingstelle Krankenversicherung Rheinland-Pfalz und dem Initiativausschuss für Migrationspolitik haben über 60 Organisationen und Einzelpersonen folgenden Aufruf veröffentlicht

Seit einigen Wochen dominieren Berichte über angeblich „bandenmäßigen Sozialmissbrauch durch EU-Bürger*innen“ die öffentliche Debatte. Ob Tagesschau, WELT oder Talkshows – immer wieder werden Menschen gezeigt, die in prekären Verhältnissen leben. Doch statt Empathie zu wecken, werden sie als „Betrüger*innen“ und „Sozialschmarotzer“ diffamiert. Diese Berichterstattung folgt einem bekannten Muster: Armut wird skandalisiert, Betroffene werden zu Täter*innen gemacht, und komplexe soziale Zusammenhänge werden auf Schlagzeilen verkürzt.

Medien greifen damit Bilder und Worte auf, die rechtspopulistische Erzählungen bedienen. Wenn von „Banden“ und „mafiösen Strukturen“ die Rede ist, werden Angst und Abgrenzung produziert. Die zugrunde liegenden Ursachen – strukturell bedingte Armut, Ausbeutung und fehlender Schutz für Beschäftigte aus anderen EU-Staaten – geraten aus dem Blick. So entsteht eine Debatte, die auf Klicks und Empörung zielt, nicht auf Aufklärung.

Dass führende CDU-Politiker wie der Bundeskanzler und Carsten Linnemann und selbst SPD-Arbeitsministerin Bärbel Bas diese Erzählungen aufgreifen und politische Verschärfungen fordern, ist gefährlich. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist geltendes EU-Recht, das vom Europäischen Gerichtshof immer wieder bestätigt wurde. Wer hier arbeitet, hat Anspruch auf soziale Absicherung, wenn der Lohn zum Leben nicht reicht. Das Bürgergeld ist kein Geschenk, sondern sichert das Existenzminimum. Wer daran rüttelt, stellt nicht nur Solidarität infrage, sondern auch die rechtliche Grundlage der Europäischen Union.

Für viele EU-Bürger*innen in Deutschland ist ein Minijob in Kombination mit aufstockenden Sozialleistungen oft der einzige Weg, Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten. Wenn diese Regelungen geändert oder eingeschränkt werden, verlieren viele Menschen den Versicherungsschutz und damit den Zugang zu medizinischer Versorgung. Das wäre nicht nur sozialpolitisch höchst verantwortungslos, sondern auch ein Bruch mit den grundlegenden Menschenrechten. Ein Ausschluss von EU-Bürger*innen aus dem Gesundheitssystem würde die ohnehin bestehende soziale Ungleichheit nochmals massiv verschärfen und langfristig auch das öffentliche Gesundheitswesen destabilisieren.

Die Wirklichkeit sieht ohnehin anders aus, als sie derzeit medial gezeichnet wird. Organisierter Sozialbetrug kommt vor, betrifft aber einen minimalen Bruchteil der Leistungsbeziehenden: Von 5,5 Millionen Menschen wurden im letzten Jahr 421 Fälle des „bandenmäßigen“ Betrugs erfasst. Die große Mehrheit handelt korrekt, arbeitet, zahlt Steuern und lebt trotzdem unter dem Existenzminimum. Sie haben ein Recht auf Sozialleistungen, also auf Aufstockung und darauf, nicht öffentlich an den Pranger gestellt zu werden.

Ein zusätzlicher Blick auf die Zahlen zeigt, wie unverhältnismäßig die aktuelle Diskussion ist: Die Bundesagentur für Arbeit schätzt den Schaden durch „bandenmäßigen Bürgergeld-Missbrauch“ auf ca. 110 Millionen Euro. Demgegenüber stehen mindestens 100 Milliarden(!) Euro jährlich, die dem Staat durch Steuerhinterziehung entgehen, sowie Schäden aus Wirtschaftskriminalität, die allein jährlich fast 3 Milliarden Euro ausmachen – Tendenz steigend. Diese Zahlen zeigen: Bürgergeldbeziehende werden überwacht und unter Generalverdacht gestellt, während deutlich größere Finanzschäden kaum Aufmerksamkeit erzeugen.

Bemerkenswert ist, welche Formen von Betrug Empörung auslösen – und welche nicht. Steuerhinterziehung gilt als Kavaliersdelikt, obwohl der Schaden um ein Vielfaches höher ist als bei allen bekannten Fällen von Sozialleistungsmissbrauch zusammen. Wer also von Gerechtigkeit spricht, muss diese Relation sehen.

Armut, unsichere Beschäftigung und Ausgrenzung sind keine Vergehen, sondern Folgen politischer Entscheidungen. Wir müssen Demokratie, Sozialstaat und den gesellschaftlichen Zusammenhalt schützen. Das schaffen wir nicht, indem wir Betroffene kriminalisieren, sondern indem wir hinschauen, bei den Fakten bleiben und Armut politisch angehen.

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Quelle:
Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V.(GGUA)
Hafenstraße 3-5
48153 Münster
Tel.: 0251/ 144860
https://www.ggua.de