Zum Leben zu wenig

Handy, Urlaub, Zuversicht sind für arme Kinder nicht

Arm zu sein ist auch Kindern peinlich und vermindert ihre Lebenschancen

Aufwachsen in Armut kann Kindern langfristig schaden – auch wenn diese hierzulande gern kleingeredet oder ignoriert wird. Dabei verharrt die Kinderarmut in Deutschland seit den 1990ern auf hohem Niveau. Was viele überraschen mag: Münster bildet da leider keine Ausnahme. Was das für die Familien bedeutet, zeigt der folgende Bericht.

Von Lisa Liesner

Arm? – Nein, als arm will Tom* seine Familie nicht bezeichnen. Der Elfjährige wohnt zusammen mit seiner Mutter und der jüngeren Schwester. Freunde will er in die beengte Wohnung nicht einladen. Lieber verabredet er sich zum Fußballspielen im Park. Den Eintritt für Kino oder Indoor-Spielplatz kann sich die Familie ohnehin selten leisten.
Wie vieles andere auch nicht, verrät Toms Mutter Sandra*. „Ich gehe schon länger wieder in Teilzeit arbeiten. Doch aus der Aufstockung bei Hartz IV kommen wir nicht raus“, erzählt sie. Die finanziellen Probleme versucht sie von den Kindern fernzuhalten. „Wenn eine Klassenfahrt oder ein Ausflug anstehen, muss ich immer extra Anträge stellen. Genauso wie das Mittagessen in Schule und Kindergarten, bei Schulmaterialen usw.“ Nachdem die alte Waschmaschine den Geist aufgegeben hatte, reichte das Geld hinten und vorne nicht mehr. „Da musste ich tatsächlich ein paar Mal Essen bei der Tafel holen. Das war schlimm, weil man mich so von oben herab behandelt hat.“
Tom weiß davon nichts. Wohl merkt er aber, dass die Familie nie in den Urlaub fahren kann. Darum schämt er sich, wenn die anderen Kinder nach den Ferien begeistert von ihren Reisen berichten.

So wie Tom geht es vielen Kindern – auch in Münster. 16,3 Prozent der Kinder befinden sich hier im SGB-II-Bezug, wie die Zahlung von Arbeitslosengeld II bzw. Hartz IV im Amtsdeusch heißen. 2011 waren es noch 14,7 Prozent. Damit steht Münster besser da als andere Großstädte in NRW, vor allem im Ruhrgebiet, liegt aber über dem westdeutschen Durchschnitt von 13,2 Prozent.
Dass in manchen Stadtteilen überdurchschnittlich viele Familien von SGB-II-Leistungen leben, dürfte angesichts der Mieten im Innenstadtbereich kaum überraschen (siehe Seite 6ff). Dabei sind noch nicht die Kinder mit eingerechnet, die durch Umstände wie Flucht oder Wohnungslosigkeit durchs SGB-II-Raster fallen. Hier kann man tatsächlich absoluter Armut begegnen, die von der Politik gerne verleugnet wird. Ebenso unberücksichtigt bleiben die Familien mit geringem Einkommen, die nicht im SGB-II-Bezug sind, also die „versteckte Armut“. Die Armutsgefährdung im Regierungsbezirk Münster liegt also noch höher (siehe Grafik).

Als „arm“ will sich niemand outen

Im Vergleich zu anderen reichen Industrieländern ist die Ungleichheit beim Kindeswohl hierzulande verhältnismäßig hoch. Bei einer UNICEF-Studie dazu landete Deutschland im vergangenen Jahr auf Platz 14 von 35. Dies mag überraschen, denken doch viele bei Kinderarmut an weit entfernte hungernde oder obdachlose Kinder. Kinderarmut in Deutschland? Ja, okay, da gibt es verwahrloste Kinder in zerrütteten Familien. Selbst will keiner etwas damit zu tun haben – wie auch Toms Familie. Hartz-IV-Klischees und Privatsendern sei Dank gibt man meist den Eltern die Schuld – „faul“ oder „ungebildet“ lauten die entsprechenden Ausdrücke dafür.
Ein fataler Fehler, verdeckt dies doch die vielfältigen ökonomischen und sozialstrukturellen Bedingungen, durch die Menschen in soziale Benachteiligung und Armut geraten. So gibt selten jemand zu, dass er unterm Minimum oder knapp darüber lebt. Dabei reichen die Verarmungsprozesse schon weit in die Mittelschicht hinein. Gerade daraus erwachsende Abstiegsängste führen dazu, dass sich die Betroffenen klar nach unten abgrenzen wollen, anstatt sich zu solidarisieren.
Besonders trifft es dann Kinder, die bei einem Elternteil – meist bei der Mutter – aufwachsen, die mehrere Geschwister haben oder deren Eltern arbeitslos sind. Die Armut nimmt bei ihnen sogar weiter zu, wie der im März veröffentlichte Armutsbericht zeigt. Einmal in den SGB-II-Bezug geraten, kommen die Familien oft jahrelang nicht mehr aus der Negativspirale heraus. Sind dabei anfangs noch genügend Ressourcen wie etwa Kleidung, Möbel oder soziales Netzwerk vorhanden, fehlt es mit der Zeit am Notwendigsten. Aber auch Eltern, die einen Job (oder mehrere) haben, verfügen häufig nur über ein Einkommen knapp über dem Hartz-IV-Niveau (die sogenannten „Working Poor“). Damit haben sie oft keinerlei Anspruch auf weitere Unterstützung. Mögliche überlagernde Probleme in den Familien, wie zum Beispiel Überschuldung oder Drogenmissbrauch, sollten immer in Zusammenhang mit den Verhältnissen gesehen werden, statt einseitige Schuldzuweisungen auszusprechen und so Armut zum individuellen Problem zu degradieren.

Wer das Geld nicht hat, kann halt nicht mitmachen

Wie wirkt sich das alles auf die Lebenswelt der Kinder aus?
Die Benachteiligung findet häufig in mehreren Bereichen statt: Viele arme Kinder sind materiell unterversorgt, haben beispielsweise nicht genügend Winterkleidung, seltener Handys oder Computer zur Verfügung als Gleichaltrige. „Die anderen lachen mich manchmal aus, weil ich gebrauchte Klamotten habe und kein Smartphone“, erzählt Tom. Seine Mutter hat Kleidung immer auf Flohmärkten gekauft. „Das ist hier in Münster ja auch normal. Da wird man dafür nicht als arm abgestempelt. Aber je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird das.“
Familien mit geringen Einkommen bewohnen kleinere Wohnungen, oft am Stadtrand und besitzen seltener ein Auto. „Das fehlende Auto ist hier in Münster eigentlich das geringste Problem“, sagt Sandra. Für die Kinder ist es oft auch in Ordnung, dass sie keine neuen Dinge bekommen. Viel schlimmer ist es für sie, von Gleichaltrigen ausgelacht oder komisch angeguckt zu werden. Sie schämen sich, dass sie nicht wie ihre Freunde selbstverständlich an Aktivitäten teilnehmen können. Man kann sich gut vorstellen, dass das gerade in Münster schwierig ist. Mehr Shoppingcenter, mehr Supermärkte, mehr Cafés –sie alle tragen dazu bei, dass schon für Kinder Freizeit zur „Konsumzeit“ wird.
Wer nicht das Geld hat, kann halt nicht mitmachen. Auch Ausflüge in den Zoo, ins Nimmerland oder Kino sind für viele Familien nicht bezahlbar. Kinder erfinden dafür nicht selten Ausreden, um von den anderen nicht ins Abseits gestellt zu werden. Wollen sie auch zum Fußballtraining oder in die Musikschule gehen, können Eltern Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket beantragen. Außerdem gibt es Vergünstigungen mit dem Münsterpass oder möglicherweise eine Förderung durch eine Stiftung.
All die bestehenden Angebote bergen aber noch immer die Gefahr, als arm „abgestempelt“ zu werden. Oder auch der Bevormundung: Den Familien wird unterstellt, sie wüssten nicht, was gut sei für ihre Kinder, weshalb man ihnen ein Angebot vorlegen müsse, obwohl Untersuchungen aus der Armutsforschung dieses Vorurteil nicht bestätigen. Zutreffend ist vielmehr: Die Kinder spüren die krasse Ungleichheit in Form von sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung. Nicht umsonst landete Deutschland bei der besagten UNICEF-Studie bei der Lebenszufriedenheit auf Platz 29 unter 35 getesteten Ländern.

Ressourcen der Familien stärken

Die Kinder gehen durchaus unterschiedlich mit der Situation um. Bei vielen wird Armut zum zentralen Entwicklungsrisiko: Ihnen drohen soziale Isolation und gesundheitliche Beeinträchtigungen. Sie haben schlechtere Bildungschancen, während andere relativ unbeschadet durch Kindheit und Jugend kommen. Prof. Margherita Zander, die lange Jahre an der Fachhochschule Münster zur Kinderarmut forschte, sieht Resilienzförderung als wichtiges Konzept an: „Wir richten unser Augenmerk auf die trotz aller Widrigkeiten vorhandenen Potenziale der Kinder und Familien, auf ihre Fähigkeiten und Ressourcen, die als Schutzfaktoren wirksam werden können und die es zu stärken und zu fördern gilt.“ Dazu gehört die Stärkung von Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit, die Förderung von sozialen Kontakten, sozialen Kompetenzen, Problemlösefähigkeit und von individuellen Fähigkeiten. Auf diesen Grundsätzen basieren auch viele Projekte und Angebote in Münster, welche in der nächsten Ausgabe der Sperre ausführlicher vorgestellt werden sollen.

Grundsätzliche Lösungsvorschläge ignoriert

Doch darf die Politik solche sozialpädagogischen Konzepte nicht als Vorwand nehmen, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Vielmehr muss sie dafür sorgen, dass Kinder die gleichen Chancen im Leben haben. Handlungsbedarf besteht dabei vor allem bei den ALG-II-Regelsätzen (siehe Seite 20). Sie lassen kaum soziale und kulturelle Teilhabe zu. Ein Schritt nach vorn ist der Ausbau des Unterhaltsvorschusses – zumindest für die Ein-Eltern-Familien. Grundsätzliche Lösungsvorschläge wie eine Kindergrundsicherung wurden bisher weitgehend ignoriert, obwohl sie das Potential haben, Kinder tatsächlich aus der Armut zu holen. Stattdessen wurde mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ein bürokratisches Maßnahmenbündel geschnürt, in dessen Genuss längst nicht alle Familien kommen. Die MünsterlandKarte hat zwar manches vereinfacht, dennoch ermöglicht sie nicht allen Kindern überall Teilhabe.

Überhaupt wird das Thema Kinderarmut gerne kleingeredet: Richtige Armut gäbe es ja hierzulande nicht, weshalb auch kaum Handlungsbedarf bestünde, heißt es oft. Kritik an Kinderarmut gilt als ein „Jammern auf hohem Niveau“. Wir sollten aber die die offenkundige Ungleichheit weder ignorieren noch relativieren, die Kindern Tag für Tag vor Augen führt, dass sie nicht dazugehören. Wir müssen darüber nachdenken, was es mit Menschen machen kann, wenn sie fortdauernd das Gefühl bekommen, nicht wirklich Teil dieser Gesellschaft zu sein.
Es muss ein Umdenken stattfinden. Denn solange die besser gestellten Eltern ihre Kinder weiterhin in die vermeintlich besseren Kindergärten und auf die Schulen mit den angeblich besseren Chancen schicken – ganz nach dem Motto: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ –, sind wir noch weit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft, die wirklich gleiche Chancen für alle bietet. Dafür ist Solidarität gefragt.

Die mit *gekennzeichneten Namen der Personen wurden von der Redaktion geändert, da niemand von ihnen offen sprechen wollte. Die hier beschriebene Situation kann aber durch wissenschaftliche Studien sowie durch eigene Erfahrungen bestätigt werden.